Martinas Woche 37 – 2019

Fete de l'Humanité, 14/15.9.2019 | Foto: Helmut Scholz

Orwell und die neue EU-Kommission

Von der Leyen Pläne – Israel – Besuch in Brüssel – Feminist Future – FridayforFuture – HDP – Grönemeyer

Bevor es morgen nach Strasbourg zur 3. Plenarwoche der neuen Legislatur geht, haben wir schon allerhand zu berichten. Beginnen wir beim Neuen – Who is Who? – der Linken im Europaparlament. Martina Michels wurde in der vergangenen Woche zur Delegationssprecherin der Delegation der LINKEN im Europaparlament gewählt. Die Abgeordneten haben zugleich die Rotation nach zweieinhalb Jahren mit beschlossen. Dann wird Özlem Demirel, die derzeit für die Schatzmeisterei verantwortlich ist, die Delegationsleitung übernehmen.

Unsere Delegation der LINKEN im Plenarsaal (v.l.n.r.: Özlem Demirel, Martin Schirdewan, Cornelia Ernst, Martina Michels, Helmut Scholz) | Foto: Özlem Demirel

In der vergangenen Woche stellte Ursula von der Leyen ihre designierten EU-Kommissionskolleginnen und -kollegen vor und die Zuschnitte der Ressorts, sowie die Verantwortungen der Vizepräsident*innen. Dies verursachte allerhand Wirbel und dies zurecht. Wir haben an drei Punkten unsere Kritik hier zusammengefasst.

Weiterhin informieren wir über Israel vor den Wahlen und über diverse Aktivitäten, die hoffentlich auch bald nachhaltig parlamentarische Entscheidungen beeinflussen, wie die Vernetzung feministischer Bewegungen, den Klimastreik der FridayforFuture-Bewegung, die vor dem Weltklimagipfel in Chile am 20. September zu weltweiten Aktionen aufgerufen hat, sowie über das Pressefest der Tageszeitung L’Humanité.

In der kommenden Woche wird der derzeitige Aufwind der türkischen Opposition hoffentlich um ein Kapitel reicher, den am 18. September 2019 wird erneut ein Prozess – Demirtaş gegen Türkei – in Strasbourg verhandelt und wir werden dabei sein.

Neue EU Kommission I: Was will Ursula von der Leyen?

Vorgeschlagenes Organigramm der neu zu wählenden EU-Kommission | Grafik: EU KOMMISSION

Am Dienstag der vergangenen Woche veröffentlichte Ursula von der Leyen ihren Vorschlag für die Verantwortlichkeiten in der neuen EU-Kommission. Ein quotiertes Gremium, immerhin, doch die Visionen, die mit den personalen Vorschlägen verbunden sind, bleiben bei aller wohltuenden Gleichstellungen fragwürdig. Martin Schirdewan, unser Fraktonsvorsitzender, fasste zusammen„Die auffälligsten Attribute der vdL-Kommission sind der Ausbau der EU-Verteidigungsindustrie …“ und kritisierte u. a. die fragwürdige Nominierung des früheren ungarischen Justizministers László Trócsányi, der den Rechtsstaatsabbau im eigenen Land mit betrieben hatte. Martina schaute ganz besonders auf ihre Fachgebiete, Regional- und Kulturpolitik, und war rundum „bedient“. Ihre Kritiken wurden umfänglich in der medialen Widerspiegelung in Deutschland und Österreich aufgegriffen, z. B. hier.
 

Neue EU-Kommission II: Neoliberaler Gegenentwurf zum solidarischen Ausgleich der Regionen

Martin Schirdewan empfängt Ursula von der Leyen in der Fraktionssitzung der GUE/NGL | Foto: Oliver Hansen (GUE/NGL)

Auch wenn Martina die designierten Kommissarin für „Kohäsion und Reformen“ Elisa Ferreira (S&D) als geeignete Kandidatin erscheint, fällt in diesem Falle die fragwürdige Aufgabenbeschreibung durch Von der Leyen ins Auge.

„Die Regionalpolitik hätte es personell sicher schlechter treffen können.“, kommentierte Martina. „Doch Ursula von der Leyen beauftragt die portugiesische Kandidatin Elisa Ferreira in ihrem „Mission letter“ (nur in EN) … nicht explizit … mit einer Politik zur Angleichung der Lebensverhältnisse. Die designierte Kommissarin für ‚Kohäsion und Reformen‘ soll … mit der Aufsicht über wirtschaftspolitische Strukturreformen in den Mitgliedstaaten und der Durchsetzung eines Eurozonenbudget-Programms betraut werden. Die bisher bekannten Planungen dafür tragen die Handschrift makroökonomischer Konditionierung sowie Unterordnung der Regional- und Förderpolitik unter die ‚Schwarze Null'“ .

Dies ist unterm Strich ein neoliberaler Gegenentwurf zum bisherigen Selbstverständnis der europäischen Regionalpolitik, wie sie vom Ausschuss und vom Parlament immer deutlich getragen wurde.

Neue EU-Kommission III: Hat der alte Orwell Frau von der Leyen beraten?

Altes Schauspielhaus Erfurt, Kellergewölbe | Foto: Konstanze Kriese

Klar, der Schriftsteller Orwell selbst ist nicht gemeint, aber jene Schreckensvision, die Orwell in seinem Roman 1984 zeichnete, die Martina sofort in den Sinn kam, als sie den neuen Zuschnitt eines der Vizepräsidenten studierte. Es soll einen Vizepräsidenten, der ehemalige Pressesprecher der Kommission, geben, der u. a. zuständig sein soll für Migration und dessen Aufgabe der „Schutz des europäischen Lebensstils“ sein soll. Abschottung und europäischer Lebensstil, man fragt sich unwillkürlich, ob Von der Leyen die Universalität der Menschenrechte abhanden gekommen ist. Doch das ist längst nicht alles. Es soll keine Kommissarin für Kultur und Bildung mehr geben. Nach 20 Jahren soll dieser Zuschnitt verschwinden? Die ehemalige Digitalkommissarin, Marija Gabriel, bewandert in der Cybersecurity und völlig abstinent gegenüber kulturellen Fragestellungen bei der Digitalisierung wurde nun für ein Ressort: „Innovation und Jugend“ vorgeschlagen und das Kulturerbe wurde dabei gleich mit in den Schoss gelegt, obwohl sie dafür wenig qualifiziert erscheint. Martina hat sich entsprechend deutlich zu diesen Plänen geäußert, was einen sichtbaren medialen Widerhall vom Handelsblatt bis zum Deutschlandradio, vom österreichischen Standard bis zum Tagesspiegel fand. 

Israel wählt am kommenden Dienstag: Netanyahu opfert friedliche Lösungen dem Wahlkampf

Bethlehem, an der Mauer, Juni 2018 | Foto: Konstanze Kriese

„Gewinnen die Rechtspopulisten um Netanyahu und Likud die Wahlen zur 22. Knesset? Welche Alternativen bieten Blau-Weiß, die Gemeinsame Liste, die Arbeitspartei oder Meretz? Und wie steht es um die israelische Demokratie?“, diese Fragen stellt Tsafrir Cohen, der Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv in einer Vorwahlanalyse: Der Hahnenkampf – Israel vor den Wahlen zur 22. Knesset.

Martina wies in der vergangenen Woche Netanyahus Forderungen zurück, Teile des Jordantals nach einem Wahlsieg zu annektieren.

Besuch in Brüssel

Debatte mit Schülerinnen und Schülern aus Berlin-Pankow, 12.9.2019 | Foto: Nora Schüttpelz

Am Mittwoch waren Schülerinnen und Schüler aus Pankow zu Besuch im Europaparlament. Gemeinsam mit Martina diskutierten sie über die Krisen und Chancen in und für Europa, über Wahltrends, Rechtspopulismus, Ursula von der Leyen und ihre Vorschläge für die neue EU-Kommission, sowie über die politische Prioritäten für die kommenden fünf Jahre.

Wie geht’s weiter mit bzw. nach dem Brexit, mit dem EU-Haushalt, der Urheberrechtsrichtlinie? Die Fragen waren konkret, weil die jungen Leute längst wussten, wie tief die EU ihren Alltag mitbestimmt. Und klar haben sie uns auch nach der linken Fraktion befragt, woran es liegt, dass sie nun die kleinste Fraktion im Parlament ist und wie wir da unsere Alternativen durchsetzen wollen. Deshalb hat sich Martina bereiterklärt, das Gespräch mit den Jugendlichen auch in Berlin weiterzuführen und zu vertiefen.

Auf den Strassen: Feminist future – Proteste gegen die IAA – Fete de L’Humanité – Friday for Future vorm Weltklimagipfel

Feminist Forum 2019 in Brüssel | Foto: GUE/NGL Press Unit

In Essen tagte an diesem Wochenende das, als Vernetzungstreffen angelegte, Feminist Future Festival, unterstützt von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Zugleich blockten um die 18.000 Menschen die IAA, um auf eine dringende Mobilitätswende aufmerksam zu machen. Es ist zu hoffen, dass sich einige von ihnen auch am kommenden Freitag, dem 20. September unter dem Motto #AllefürsKlima zum weltweiten Klimastreik einfinden. Die Stuttgarter Zeitung sprach mit einem der jungen Organisatoren, um herauszufinden, warum er sein Abitur aufs Spiel setzt, um möglichst viele Unterstützerinnen und Unterstützer für den Streik zu gewinnen.

Fete de l’Humanité, 14/15.9.2019 | Foto: Helmut Scholz

Schon vor zwei Wochen besuchte Martina das Pressefest in Wien, diesmal im strahlenden Sonnenschein, und es begannen u. a. die ersten Auswertungen des Wahlergebnisses linker Parteien in Europa. Verstärkt wurden die Debatten auf dem legendären Fest der L’Humanité in Paris an diesem Wochenende, bei dem unsere Delegation durch Helmut Scholz vertreten war und das unter anderem genutzt wurde um das 3. Europäische Forum, welches Anfang Oktober in Brüssel stattfinden wird, vorzubereiten.

Helmut Scholz (links) auf dem Pressefest der L’Humanité, 14.9.2019

Viele Linke, die innerhalb von Parteien organisiert sind, wurden von ihren strategischen Leerstellen in Form heftiger Wahlniederlagen eingeholt. Innerhalb der heftigen Auseinandersetzungen zwischen einem autoritären und rassistischen Turn auf der einen und einem grünem Kapitalismus auf der anderen Seite, welche drei die politische Öffentlichkeit bestimmen, wird eine Linke, die die soziale Frage nicht zeitgemäß buchstabiert, marginalisiert. In den vergangenen Jahren gab es auch hoffnungsvolle Neu- und Umgründungen im linken Spektrum, wie Podemos oder France Insoumise. Die Kooperation zwischen den linken Kräften oder eine Stärkung der Partei der Europäischen Linken hat dies jedoch noch nicht erfasst, im Gegenteil. Will eine gemeinsam aktive Europäische Linke in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einen Gebrauchswert für junge Menschen, für Frauen, Migrantinnen und Migranten, Gewerkschaften und Kulturleute, Software-Ingeneurinnen und Krankenpfleger behalten, dann muss sie aus der gemütlichen Nische der internen Streits und der eigenen Machtspiele heraus und den eigenen positiven Erfahrungen folgen. Linke waren immer dann am stärksten, wenn sie Teil progressiver Bewegungen waren, dialogfähig und mit guten Projekten, wie zum Beispiel derzeit dem Mietendeckel in Berlin, Energiegenossenschaften auf dem Dorf, alternative Radios in Griechenland oder mutiger Kommunalpolitik in Wien oder Barcelona sichtbar waren. So sind zum Beispiel derzeit die Solidarity Cities entstanden, die sich – entgegen der abschottenden Europäischen Flüchtlingspolitik – zu sicheren Häfen erklärt haben und dies mit entsprechenden Projekten und Hilfen für Asylsuchende verbinden.  

Vorschau – Freiheit für Selahattin Demirtaş

Vorm Auswärtigen Ausschuss in Brüssel, 19.Juni 2016 | Foto: Nora Schüttpelz

In der kommenden Woche findet das erste Plenum des Europaparlaments nach der Sommerpause und das dritte insgesamt in der neuen Legislatur statt (Miniplenen ausgenommen). Neben dem Parlamentarischen Programm werden Martina Michels und Özlem Demirel beim Prozess – Demirtaş gegen Türkei – am 18.9.2019 vor der Großen Kammer des Europäischen Menschengerichtshof anwesend sein.

Nach der formell begründeten Freilassungsanordnung für Demirtaş durch ein Türkisches Gericht am 2.9.2019 bekommt der Prozess vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Rückenwind. Seit November 2016 ist der ehemaligen HDP-Vorsitzenden – genau wie seine Co-Vorsitzende Figen Yüksekdag – inhaftiert. Der Druck auf Erdoğan nimmt auch innerhalb der Türkei zu. Eine wachsende Opposition aus CHP und HDP benötigt jedoch eine, bisher immer ausgebliebene, politische Kooperation, die über Wahlunterstützung durch die HDP wie im Falle des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu hinausgeht.

Was sonst  noch passierte

Herbert Grönemeyer macht das, was er immer macht. Er macht bei einem Konzert in Wien ein paar deutliche Ansagen, in denen er darauf verweist, wie fragil die Demokratie ist, wenn wir sie nicht verteidigen. Nur diesmal kommt alles anders, wie ungewöhnlicherweise der STERN unaufgeregt und sachlich richtig kommentiert. Ein paar Leute verlieren im Netz die Nerven und vergleichen Grönemeyer mit Goebbels. Und da müssen wir jetzt mal ganz kritisch sein. Was das ZDF da gerade raushaut, indem es nun die Aussagen von Grönemeyer als „umstritten“ tituliert, hinterlässt die ernsthafte Frage, wer da gerade die eigenen Medienkompetenz über Bord geworfen hat. 

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.