REGI NEWS – April 2023

Zukunft der Koäsionspolitik – Fake news oder Skandal: EU-Hilfen fördern Ungleichheit – Europäisches Jahr der Kompetenzen – Ausblick auf die REGI-Sitzung

Martina Michels, Nora Schüttpelz

Zukunft der Kohäsionspolitik

Martina Michels im EP-Plenum Strasbourg | Screenshot @ NOSCH

Die Debatten um die Zukunft der EU-Regional- und Förderpolitik ist in vollem Gange. Während in dieser Woche im Strasbourger Plenarsaal über die Notwendigkeit einerseits und mögliche ungewollte Nebenwirkungen des EU-Beihilferechts für die wirtschaftliche Entwicklung in Regionen und Kommunen andererseits debattiert wurde – siehe hier Martina Michels Plenarrede – , luden vier Regionen (Hessen, Nouvelle-Acquitaine, Emilia Romagna und Wielkopolska) aus vier Mitgliedstaaten zur Podiumsdiskussion mit Elisa Ferreira ein. So unterschiedlich diese Regionen sind, so sehr haben doch alle von den EU-Fördermitteln profitiert – sei es hinsichtlich deutlich sichtbaren Wirtschaftswachstums, hinsichtlich besserer Fördermöglichkeiten und damit Handlungsanreize für Klimaschutz und erneuerbare Energien, bezüglich engerer Zusammenarbeit zwischen Regionen und Kommunen oder der raschen Digitalisierung von Schulen während der Corona-Krise. Doch vor allem Probleme und Wünsche für die Zukunft waren Thema: Vereinfachung und Flexibilisierung und damit Anwendbarkeit der Förderpolitik ist Dauerthema. Denn trotz verbesserte Ansätze, Projektkosten beispielsweise verstärkt über Pauschalen abzurechnen, verschiedene Fonds kombinieren zu können und verbesserte online Informations-Portale, lassen sich die Strukturfondsmittel nur mit einem gewissen Maß an Expertise umfassend nutzen und letztlich auch nur mit hinreichend gut geschulten Personal. Zusätzlich erschwert wurde die Vorbereitung aktuellen Förderperiode paradoxerweise durch zusätzliche Förderinstrumente: Änderungen an den Strukturfondsregeln in der Corona-Krise, die durch gemeinsame Schulden finanzierte Wiederaufbau- und Resilienzfazilität, der Just Transition Fonds für die Kohleregionen oder auch die zusätzlichen Nutzungsmöglichkeiten der Fördermittel zur Bewältigung des großen Flüchtlingsaufkommens aus der Ukraine sind einerseits von den Regionen dankbar aufgenommen worden. Andererseits sprengten Neu- und Umplanungsaufwand sowie die krisenbedingte Vermischung strategischer und kurzfristiger Erfordernisse, Aufgaben und Ziele die oft durch Sparmaßnahmen sowieso arg gebeutelten die Verwaltungskapazitäten.

Einigkeit bestand darüber, dass die Kohäsionspolitik als langfristige strategische Entwicklungspolitik zur Angleichung der Lebensverhältnisse erhalten bleiben müsse und zwar für alle Regionen, wenn auch selbstverständlich weiterhin mit einem Fokus auf die ärmsten Regionen. Die Kommissarin Ferreira warnte entsprechend davor, mit notwendiger Kritik und Verbesserungsbestrebungen gleichzeitig die Politik an sich in Frage zu stellen.

Kommissarin Elisa Ferreira

Sie betonte aber auch, dass gerade die EU-Kohäsionspolitik nicht nur den Wandel in Gesellschaft und Wirtschaft stets ausgleichend begleitet und gefördert habe, sondern auch selbst stets im Wandel begriffen war und weiterhin sein müsse. Sie verwies in diesem Zusammenhang auch die Gruppe hochrangiger Experten zur Zukunft der Kohäsionspolitik, die die Kommission eingesetzt hat, um darüber nachdenken, wie die Wirksamkeit der Kohäsionspolitik maximiert, die vielfältigen Herausforderungen angegangen werden können – von der Innovationskluft bis zum demographischen Wandel, vom fairen digitalen und grünen Übergang bis zur regionalen Erholung und Wachstum. Die Gruppe wird ihre strategischen Schlussfolgerungen und Empfehlungen wohl im Februar 2024 veröffentlichen. Bis dahin können Thesenpapiere und teilweise auch die Debatten online eingesehen werden.

Fake news oder Skandal: „EU-Gelder erhöhen die Ungleichheit“ ?

Unter dieser Überschrift erschienen kürzlich einige Artikel in verschiedenen Publikationen. Nun wissen wir, dass es bei Einkommen und Wirtschaftskraft riesige Unterschiede in Europa. Und die EU-Strukturfonds sind sollen dem verfassungsmäßig verbreiften Ziel dienen, diese Unterschiede abzubauen. Sollte das nun dreißig Jahre lang völlig danebengegangen sein? Tatsächlich gibt es eine neuere Studie, laut derer Förderung mit ESF- und EFRE-Mitteln in den ärmsten Regionen der EU (das sind diejenigen mit einer Wirtschaftsleistung unter 75% des EU-Durchschnitts) vor allem den gut ausgebildeten Arbeitnehmer*innen in diesen Regionen zugute kommt und ihr Arbeitseinkommen steigt. Die Ärmsten in den ärmsten Regionen würden dagegen am wenigsten von der Förderung profitieren. Die Ungleichheit innerhalb dieser Regionen steigt damit und letztlich auch die Ungleichheiten zwischen Arm und Reich in ganz Europa.

Bedeutet das nun ein grandioses Scheitern der Kohäsionspolitik? Die Forscher*innen schreiben immerhin selbst: „Für die Politikgestaltung implizieren unsere Ergebnisse nicht, dass ortsbezogene Politik unwirksam ist. Wenn das Ziel darin besteht, die Ungleichheit zwischen den Regionen zu verringern, sind sie mächtige Werkzeuge. Ihr Potential, die allgemeine Ungleichheit anzugehen und die Armen zu entlasten, scheint jedoch stark begrenzt – zumindest, wenn sie nicht mit Regeln gekoppelt sind, die eine gleichberechtigtere Verteilung der ortsbezogenen Unterstützung gewährleisten. Wie solche Politiken gestaltet werden könnten, ist eine wichtige Frage für die nachfolgende Forschung.“ Tatsächlich betreibt die EU im Prinzip keine Sozialpolitik als individuelle Umverteilungspolitik. Diese obliegt weitestgehend den Mitgliedstaaten und ihren Sozialsystemen. Das Ziel, die regionalen Wachstumsunterschiede ausgleichen zu helfen, erreichen die EU-Strukturfonds vielfach. Dazu gibt es lange Zahlenreihen und auch besagte Studie stellt das nicht in Abrede. Auch ist es nicht furchtbar verwunderlich, dass Fördermittel leichter denjenigen zugänglich sind, die wissen, wo und wie sie beantragt werden oder in Unternehmen arbeiten, die das können. Gemessen wurde hier außerdem vor allem der Effekt auf Haushaltseinkommen. Wie sich soziale Betreuungsprojekte anders als in Einkommenssteigerungen positiv auswirken – sei es in der Gesundheitsversorgung, beim Zugang zu Bildung und Kultur oder Mobilität, wurde hier nicht beschrieben.

Letztlich gibt die Studie natürlich dennoch zu denken. Nicht nur, ob vielleicht doch auch EU-Mittel für individuelle Hilfen verwendet werden können – vorsichtige Ansätze gibt es ja bei der Flüchtlingshilfe und beim Klimasozialfonds (der noch nicht in Kraft ist, aber in dieser Woche vom Parlament bestätigt wurde und der Einkommenszuschüsse für die ärmsten 10% der Bevölkerung im Falle von Energiearmut möglich machen soll). Zweitens wird hier noch einmal deutlich, dass „Trickle down“ Theorien, nach denen Wirtschaftswachstum am oberen Ende der Klassengesellschaft auch nach „unten“ durchtröpfelt, der Realität kaum standhalten. Rein Wirtschaftswachstums-orientierte Entwicklungskonzepte sind also wenig geeignet, soziale Ungleichheit insgesamt zu bekämpfen. Drittens dies auch Anregung sein, den Erfolg von Strukturfondsförderung, aber auch anderer Politiken eben nicht nur in Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts zu messen, sondern stärker anhand zusätzliche Entwicklungsindikatoren zu prüfen, was ja mit EU-Inititativen zum Beyond GDP-Ansatz durchaus, wenn auch längst nicht standardmäßig, auch auf EU-Ebene aufgegriffen wird.

Nächste Sitzung der REGI

Der REGI-Ausschuss-Sitzung hat Kommissarin Elisa Ferreira turnusgemäß zu seiner nächsten Ausschuss-Sitzung am 25. April eingeladen, um diese und weitere aktuelle Fragen und die anstehenden Aufgaben in einem strukturierten Dialog zu diskutieren.

Weiterer zentraler Tagesordnungspunkt ist ein Meinungsaustausch mit Vaughan Gething, Wirtschaftsminister von Wales über den Brexit und die Zusammenarbeit von Wales mit der Europäischen Union. Nach dem Ausstritt von UK aus der EU sind nun die meisten Projekte ausgelaufen, die durch EU-Fördermittel unterstützt wurden. Das trifft unter anderem soziale Hilfsorganisationen besonders hart, die Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds erhielten, die nun wegfallen (Tagesschau.de berichtete über kürzlich über Beispiele im Norden von Irland). Für zahlreiche Projekte zur Unterstützung bei der Wohnungssuche, Berufsausbildung, Jobsuche etc. bedeutet dies wahrscheinlich das Aus, denn die britische Regierung kommt ihren Versprechen, diese Mittel auszugleichen offenbar nicht im erhofften Maße nach.

Weiteres Thema ist die der Rückblick auf Anpassung der Regeln der Kohäsionspolitik zur Reaktion auf COVID-19 (Coronavirus Response Investment Initiative (CRII, CRII Plus) und REACT-EU). Mittels dieser Anpassungen wurden u. a. ungenutzte Mittel der EU-Regionalpolitik über flexiblere Regeln verfügbar gemacht und über die Kohäsionsgelder hinaus wurden weitere 50,4 Milliarden Euro bereitgestellt. Der Europäische Rechnungshof hat dazu einen Sonderbericht vorgelegt, den sie nun den MdEP vorstellen wird. Neben der Würdigung wird kritisch angemerkt, dass die Nutzung der Kohäsionspolitik zur Krisenbewältigung eben auch von dem strategischen Hauptziele – der Verringerung der Unterschiede zwischen den europäischen Regionen – ablenken kann.

Die DG REGIO der Kommission wird den 4. Bericht über die Umsetzung der makroregionalen Strategien vorstellen – es gibt je eine Strategie für den Ostseeraum (EUSBSR), die EU-Strategie für den Donauraum (EUSDR), die EU-Strategie für den Adria- und Ionischen Raum (EUSAIR) und die EU-Strategie für den Alpenraum (EUSALP).

Tagesordnung und Livestreamlink hier.

Das Europäische Jahr der Kompetenzen 2023

77% der Unternehmen in der EU klagen über Fachkräftemangel, während nur 37% der Erwachsenen regelmäßig eine berufliche Weiterbildung absolvieren. Laut Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft verfügen 40% der Erwachsenen und jede 3. Arbeitskraft in Europa nicht über digitale Grundkenntnisse. Frauen sind in technischen Berufen und Studienfächern unterrepräsentiert. Nur jede 5. IT-Fachkraft und jeder 3. Studienabsolvent der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT) ist eine Frau.

Das Europäische Jahr der Kompetenzen 2023 soll unter anderem dazu beitragen, dass 60% der Erwachsenen jährlich eine berufliche Fortbildung machen und mindestens 78% erwerbstätig und ist damit Teil der Strategie für die erfolgreiche Umsetzung der Sozialziele für 2030. Dr. Renate Eras schreibt auf unserer Fördermittelwebsite https://www.eu-foerdermittel.eu/europaeisches-jahr-der-kompetenzen-2023/, was es mit dem Europäischen Jahr der Kompetenzen 2023, den Sozialzielen 2030  und dem Digitalen Kompass 2030 auf sich hat und welche EU-Förderprogramme und Fördermittel stehen für die Umsetzung der Initiativen zur Verfügung stehen.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.