Die EU und der Norden in neuer geopolitischer Situation

Rovaniemi, Internationales Tourismuszentrum „Weihnachtsmanndorf“ ; EFRE finanziert, Förderung von KMU | Foto: Antoine Bazantay

Regionalausschuss des Europaparlaments besucht Finnland – Eine Reisebericht

Martina Michels

Vom 20. bis 24. Februar besuchte eine parlamentarische Delegation des Europaparlaments, der ich angehören durfte, das nördlichste Mitgliedsland der EU, Finnland. Ziel dieser Reise war es vor allem, einen Eindruck über die Verwendung der von der EU bereitgestellten Regional- und Strukturfördergelder zu erhalten und die aktuelle Situation unter den Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine zu beleuchten.

Bisher standen europäische Norden weniger im Fokus der parlamentarischen Aktivitäten – sehr zu Unrecht, wie wir in den vielen Begegnungen dieser Reise erfahren sollten.

Zunächst hatten die Finnen wie viele Länder weltweit mit den Folgen der Corona-Pandemie zu kämpfen. Doch Finnland ist in mehrfacher Hinsicht auch derzeit ein Schmelztiegel der globalen Krisen. Zum einen sind die Folgen des Klimawandels nördlich des Polarkreises, insbesondere in den riesigen Waldgebieten, dramatisch spürbar. Zum anderen verbindet das Land eine 1340 km lange Landgrenze zu Russland. Es ist die längste nationale Schengen-Außengrenze der EU. Sowohl die Herausforderungen, den Klimawandel zu stoppen als auch der verbrecherische Angriffskrieg auf die Ukraine durch Russland haben gravierende Auswirkungen vor allem auf die regionale Entwicklung in Finnland. Von einem Tag zum anderen brachen, bis Februar 2022 gut funktionierende, Kooperationsprojekte mit russischen Wissenschaftler*innen zusammen. Durch die Sanktionen gegen Russland wurden sämtliche Gelder eingefroren, gemeinsame Forschungsgruppen aufgelöst, auch alle weltweit wichtigen Forschungsprojekte zur Zukunft der Arktis. Wenn man berücksichtigt, dass sich 50% der Arktis auf russischem Territorium befindet und wir derzeit keinerlei Datenanalysen zu diesem Territorium auswerten können, ahnt man, welche weitreichenden Folgen sich für die Fragen der Klimaforschung daraus ergeben.  Die Universitäten und Hochschulen benötigen derzeit immense staatliche Unterstützung, um diese Forschungslücken auszugleichen. In kürzester Zeit werden derzeit neue Forschungskooperationen mit den USA und Kanada und mit anderen EU- Partnern zur Fortführung der langfristig angelegten Projekte entwickelt.

Planung Grenzgänger, finnischer Grenzschutz | Foto: Antoine Bazantay

Finnland hat in der Vergangenheit viel Aufwand beim Einsatz erneuerbarer Energien betrieben. Durch den Ukraine-Krieg und dem notwendigen Schutz der finnisch-russischen Grenze ist im Grenzgebiet nun kein Windkraftausbau mehr möglich, um die Sicherung des Luftraumes nicht zu gefährden. Wichtige Zukunftsprojekte werden Inzwischen durch Planungen zur Errichtung von Grenzzäunen an einigen Abschnitten der russisch-finnischen Grenze gestrichen. Laut den EU-Verträgen sind die Mitgliedsländer selbst für die Grenzsicherung verantwortlich. Finnland hat sich für diese Prioritätensetzung bewusst mit seinem Beitrittsantrag zur NATO entschieden.

Doch mit der Aufgabe der Neutralität in den internationalen Bündnissen hat in Finnland nicht die letzte Stunde für eine effektive Regionalpolitik geschlagen. Im Gegenteil. Es ist beeindruckend, wie zielgerichtet der Einsatz der Struktur- und Regionalfonds zur Entwicklung der regionalen Unterschiede genutzt wird. Die finnische Regierung legt dabei den Schwerpunkt der Vergabe der Fördermittel auf die weniger entwickelten Gebiete im Norden des Landes. Vor allem die enge Kooperation zwischen den Regionalverbänden, den Kommunen und den ansässigen mittelständischen Unternehmen entspricht sehr unserer Zielstellung bei den Ausschussdebatten im Parlament zu den Vergabekriterien. Immer wieder begegnete uns der Dreiklang zwischen Investitionsstrategie, ökologischen und sozialen Kriterien. Ob bei der nachhaltigen Forstwirtschaft, der Tourismusförderung, wichtigen neuen Technologien wie der Herstellung von Chips und Halbleitern, oder der Photonik. Es geht vielfach um die Einbeziehung der Unternehmen in die Forschung und Entwicklung.  Finnland gehört mit dieser nahezu vorbildlichen Arbeitsweise mit EU-Fördergeldern zu den Mitgliedsländern, die die bereitgestellten EU-Mittel vollständig ausschöpfen und vielfältige Programme wie EFRE, ESF oder den Just Transition-Fonds erfolgreich anwenden.

Rovaniemi, Internationales Tourismuszentrum „Weihnachtsmanndorf“ ; EFRE finanziert, Förderung von KMU | Foro: Antoine Bazantay

Beim Besuch im Parlament der Sami konnten wir uns mit den Bemühungen zum Schutz der indigenen Bevölkerung vertraut machen. Ein von der EU kofinanziertes Projekt (2019- 2022) zielte auf die Stärkung der Beziehungen zwischen der EU und den indigenen Völkern der Sami zum Schutz von Kultur, Sprache und eigenständiger Entwicklung ab. Für den neuen Programmplanungszeitraum 2021- 2027 sind in das Interreg- Aurora-Programm auch die Sami integriert. Vielleicht war die – eigentlich finanziell marginale EU-Kulturförderung hier der Vorreiter für die Verstetigung der Förderung von autochtonen Minderheiten, denn immerhin gewann 2017 ein Spielfilm mit „Sami Blood“ überraschend den LUX-Filmpreis. Auch wenn dieser Film eine schwedische Produktion war, wurden erstmals manch europäische Kinobesiucher*innen mit der Kulturtechnik des Joiken der Sami vertraut und erlebten zugleich eine Anklage gegen jede Art von Rassismus.

Helsinki, Regionalrat Helsinki- Uusimaa | Foro: Antoine Bazantay

Aus dieser Reise ergeben sich für uns Mitglieder des Regionalausschusses wichtige Schlussfolgerungen für die weiteren Debatten. Wir brauchen mehr denn je eine moderne Kohäsionspolitik, die sich nicht ausschließlich an der Förderung der ärmsten Länder orientiert. Mitgliedsländer wie Finnland benötigen solidarische Unterstützung bei der Bekämpfung der Folgen des Ukraine-Krieges und zugleich müssen sie die Gelegenheit erhalten, ihre ökologischen und sozialen Standards, die sie erarbeitet haben, auszubauen.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.