Gesundheit, Vertrauen, Journalismus: Ein Coronavirus-Plan für die Medien

In einem offenen Brief an die EU-Kommissionspräsidentin fordern Medienakteure und ExpertInnen sowie EU-Parlamentsabgeordnete und Ex-MEPs, das Vertrauen in das öffentliche Handeln zu fördern und die Medien zu unterstützen | Shutterstock

Fondation Euractiv | translated by  Tim Steins

Die Coronavirus-Pandemie hat auch Auswirkungen auf unsere demokratische Infrastruktur. Müssen/werden die Medien gerettet werden, wie damals in der Finanzkrise die Banken? Dafür sollten Institutionen und Regierungen kurzfristige Maßnahmen ergreifen – und zeitgleich ihre mittelfristige Politik weiterentwickeln.

In diesem offenen Brief an die EU-Kommissionspräsidentin fordern Medienakteure und ExpertInnen sowie EU-Parlamentsabgeordnete und Ex-MEPs, das Vertrauen in das öffentliche Handeln zu fördern und die Medien zu unterstützen.

Sehr geehrte Frau Kommissionspräsidentin von der Leyen, 

Während die Bevölkerung zu Hause „eingesperrt“ ist und sich Sorgen macht, boomen die Zahlen in der Medienlandschaft, und zwar bei allen Publikationen und Medien. Das ist auch wichtig für die Parlamente und die Organisationen der Zivilgesellschaft: Die Medien bleiben eine Säule der Demokratie und des Vertrauens – solange sie richtig funktionieren können…

Mit Ausnahme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist die Nachrichtenberichterstattung ein Erfolg, der oftmals mit geringen Mitteln erzielt wird: Die JournalistInnen leisten hervorragende und beeindruckende Arbeit, aber sowohl ihre Gesundheit als auch ihre Arbeitsplätze sind in Gefahr.

Die Medienbranche nicht als selbstverständlich ansehen

Der Mediensektor war schon zuvor aufgrund des raschen technologischen Wandels und der Verlagerung der meisten Werbung auf US-Plattformen anfällig. Da wir nun in eine Rezession eintreten, dürften auch die meisten der noch verbleibenden Werbeeinnahmen wegbrechen. Und da sich die Menschen nicht in größeren Gruppen treffen können, verliert die Branche nun eines ihrer wichtigsten und profitabelsten Geschäftsfelder: Veranstaltungen. Darüber hinaus wird der Zeitungsvertrieb an einigen Orten ausgesetzt.

Wenn die unabhängigen Medien verschwinden, werden Fake News/Desinformation nicht bekämpft, und das Coronavirus droht zu einer veritablen „Infodemie“ zu werden. Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten spielen eine wichtige Rolle, aber gerade in Zeiten eingeschränkter Freiheiten sind Stimmen aus dem privaten Sektor essenziell. Die derzeitige Gesundheitskrise könnte zu einer großen Vertrauenskrise werden, die Ängste, radikalen Nationalismus und Schlimmeres nährt. Um das zu vermeiden, muss die Politik „über den Tellerrand schauen“ und sich überlegen, wer für Berichterstattung bezahlt.

Um den Medien zu helfen, zu überleben und sich anzupassen, sind Strategien für die Branche erforderlich, und zwar auch im öffentlichen Sektor. Die EU kann dies nicht allein tun – die Mitgliedstaaten und auch philanthropische Organisationen spielen eine Schlüsselrolle. Die Union bereitet aber bereits einen besseren politischen Rahmen vor und sollte nun mit gutem Beispiel vorangehen.

Mittelfristige StrategiePolitik für die Medienwelt

Die Neugewichtung der Medienwelt (Plattformen/Werbung/Medien) ist in der Digitalstrategie der EU deutlich im Rückstand. Es gibt horizontale Dimensionen wie den Digital Services Act und möglicherweise auch einige für den Journalismus. Mittelfristige politische Maßnahmen (wie die Regulierung von Plattformen und eine Sektorstrategie für den Mediensektor) sind  ebenfalls notwendig. Wir wollen sie in diesem offenen Brief aber nicht weiter ansprechen: Sie werden in Bezug auf die aktuelle Lage ohnehin zu spät kommen.

EU-Beamte sprechen außerdem stolz über einen Entwurf für die Wettbewerbsrichtlinien, mit dem während der aktuellen Gesundheitskrise staatliche Beihilfen zugelassen werden, was natürlich auch für die Medien – wie für alle anderen Branchen ebenso – gilt. Im Falle des Mediensektors reichen Steueraufschübe und Kredite allerdings nicht aus. Sie verschieben die Geldprobleme nur.

Präsidentin von der Leyen: direkte Hilfe zuzulassen ist okay; andere zu ermutigen ist gut; aber mit gutem Beispiel voranzugehen wäre noch besser…

Kurzfristige Strategie: Unterstützung in der gegenwärtigen Krise

Die Medien müssen einige Kosten senken, Ersatzeinnahmen erzielen und Innovation fördern. Ein Teil des Konjunkturprogramms ist bereits skizziert. Im Folgenden einige Beispiele und Denkanstöße:

  • Förderung der Medienkompetenz zusätzlich zu kleineren Bildungsprojekten; Finanzierung von Gratis-Gutscheinen für SchülerInnen und Studierende zum Erwerb von Medienabonnements.
  • Erstattung der Sozialversicherungskosten für Mitarbeitende und JournalistInnen (nicht nur Aufschub der Zahlungen). Natürlich ist dies Sache der Mitgliedstaaten und der Sozialpartner, aber die EU kann dieses Thema anstoßen und vorantreiben. Man könnte auch die Regeln lockern, insbesondere für nicht festangestellte Freiberufler.
  • Empfehlung für Medienfonds (zur Unterstützung von Qualitätsnachrichten und zur Bekämpfung der Desinformation), die dort eingerichtet werden sollten, wo es sie noch nicht gibt. Frankreichs aides à la presse wenden beispielsweise objektive Kriterien an und respektieren die Unabhängigkeit der Medien. Lassen Sie auf EU-Ebene einen unabhängigen Medienausschuss offene Aufrufe zur Bekämpfung der Desinformation, die sich auf das Coronavirus oder künftige wichtige Themen beziehen, bewerten.
  • Ausgaben für Werbung: Das Schalten von Werbung ist ein schneller und wertschätzender Weg, um die Medien zu unterstützen, indem man Geld über unabhängige Kanäle und Verträge übermittelt. Im Gegensatz zu manchen Subventionen greift Werbung nicht in die redaktionelle Freiheit ein. Auf der anderen Seite würden massive öffentliche Informationskampagnen (keine Google-Anzeigen) das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Politik – und auch in den Journalismus – aufrecht erhalten. In Europa beläuft sich die Zeitungswerbung auf einen Wert von rund zwölf Milliarden Euro pro Jahr. Ein bisschen Zahlenspielerei: Geht man davon aus, dass in diesem Jahr ein Drittel dieser Einnahmen verloren geht, würde der Fehlbetrag vier Milliarden Euro betragen. Die Kommission und das EU-Parlament könnten die Hälfte davon, also zwei Milliarden Euro, aufwenden und die nationalen Regierungen dazu ermutigen, ebenso viel auszugeben. Auf EU-Ebene könnte dieses Geld aus Neuzuweisungen stammen, während es auf nationaler Ebene Teil der bereits beschlossenen Konjunkturprogramme sein könnte.
  • Medienunternehmen mit der Event-Ausrichtung betrauen: Es gibt einen positiven Trend, die Öffentlichkeit auf breiter Ebene zu konsultieren, sei es online oder bei Veranstaltungen. Die partizipative Demokratie wird nach den frustrierenden Ausgangssperren – und beispielsweise für die Konferenz über die Zukunft Europas – gefragt sein. Öffentliche Institutionen neigen dazu, Beamte oder Beratungsfirmen für die Ausrichtung solcher Veranstaltungen zu bezahlen. Die Medien sind gute Organisatoren und unabhängige Moderatoren: sie sollten ein fester Bestandteil der „Toolbox“ für diese Art der Auftragsvergabe sein.
  • Hoffnung für die Zukunft: Innovation. Das Ziel besteht nicht in einem subventionierten Sektor, sondern darin, ihn im Sinne der Nachhaltigkeit zu modernisieren. Die Mittelbindung für Medien könnte im kommenden mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) größer sein. Im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsprogramms Horizon Europe sind unter dem Teilaspekt Creative Europe derzeit 61 Millionen Euro für den Journalismus vorgesehen. Das ist viel zu wenig.
  • Kapital stärken: Kapital aus InvestEU und von privaten „sozial verantwortlichen Investoren“ sollte stärker gefördert werden.

Frau von der Leyen, im vergangenen Juli haben Sie die Demokratie – einschließlich der Medienfreiheit – zu einer Ihrer sechs Prioritäten erklärt. Wie viel ist es Ihnen wert, die demokratische Infrastruktur zu sichern? Klar ist: Es wird sicherlich deutlich weniger kosten als die 1,5 Billionen Euro, die nach 2008 für die finanzielle Infrastruktur bereitgestellt worden sind.

Für die Erhaltung des Mediensektors würde angesichts des schieren Ausmaßes des EU-Budgets nur ein sehr geringer Anteil veranschlagt werden müssen (zur Erinnerung: Das Gesamt-BIP der EU im Jahr 2019 war 18 Billionen Euro; das Gesamtbudget der EU für 2020 vor der Krise 169 Milliarden Euro. Eine Milliarde Euro macht somit nur 0,6 Prozent des EU-Haushalts aus). Tatsächlich wäre die gesamte „Krisenfinanzierung“ für die Medienlandschaft – ohnehin wohl nur eine Einmalzahlung – sogar deutlich geringer als die Einnahmen aus der angedachten Sonderabgabe für Plattformen. In der aktuellen Diskussion ist dabei von rund fünf Milliarden Euro pro Jahr die Rede.

Bevor wir uns den nächsten politischen Schritten zuwenden, sollten wir aber auch den privaten Sektor, insbesondere die Stiftungen, betrachten. Es ist notwendig, sich darüber bewusst zu werden und zu verstehen, dass ohne funktionierende Medien die Zivilgesellschaft kollabiert. Initiativen wie das Journalism Funders Forum sind wichtig und dringend notwendig. Der philanthropische Sektor kann die Maßnahmen der EU und der Regierungen ergänzen, indem er die Lücken füllt, die weder der öffentliche noch der private Sektor schnell abdecken würden. Er sollte Marktversagen im „Public-Interest“-Journalismus angehen, indem er Innovationen fördert, Risiken finanziell absichert und mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeitet, um Journalismus von Wert zu liefern.

Zeit zum Handeln

Für diesen Herbst sind derzeit zwei verwandte EU-Aktionspläne vorgesehen: einer zum Thema Demokratie und einer zum Thema Medien. Die Demokratie-Agenda wird von Vizepräsidentin Věra Jourová geleitet, und ihr Plan sollte natürlich einige Medienaspekte beinhalten, wie Medienfreiheit, Pluralismus und die Bekämpfung von Desinformation durch Qualitätsjournalismus.

Ein stärker auf die Industrie ausgerichteter Action Plan wurde von Kommissar Breton während seiner parlamentarischen Anhörung im vergangenen Jahr versprochen. Er sprach damals von einem „Aktionsplan für Medien und Rundfunk“. Allerdings scheinen sich die Prioritäten, sicherlich aufgrund vieler drängender Anliegen, zu ändern. Dieser Plan war somit nicht mehr Bestandteil des Arbeitsprogramms der Kommission, das Sie, Frau von der Leyen, für das Jahr 2020 vorgelegt haben.

Die von Exekutiv-Vizepräsidentin Vestager vorangetriebene Digitalstrategie erwähnte ihn noch – zu Recht. Dann wurde er in der neuen Industrie-Strategie von Herrn Breton jedoch wieder ausgelassen, obwohl es sich eindeutig um eine Sektorstrategie handelt.

Wir sollten das Tempo deutlich erhöhen, aber nicht die Verschmelzung der beiden Aktionspläne Demokratie und Medien fördern. Das dürfte die Sache eher langsam (und überaus wortreich) machen. Auch die Vorwegnahme eines Entwurfs für einen Aktionsplan für Medien schon im April könnte sich als schwierig erweisen: die Industrie- und die Wettbewerbspolitik sind mit den allgemeinen Digital-Debatten verknüpft.

Was den Aktionsplan für Demokratie betrifft, so könnte dieser schneller vorgelegt und auf dringende Fragen sowie die wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen gesunden Journalismus ausgeweitet werden. Um die Finanzierung dringender Maßnahmen zu priorisieren, könnte die Kommission außerdem sehr bald den Entwurf eines „Coronavirus-Medienaktionsplans“ herausgeben. Darin sollte sie auflisten, was sie selbst tun kann, und dem Europäischen Rat aufzeigen, wie ein Coronavirus-Rettungsplan in diesem Bereich ein- und umgesetzt werden kann.

Auch wenn die Abgeordneten des Europäischen Parlaments derzeit nicht in Straßburg zusammenkommen, verstehen sie offenbar, was die Medien bisher im Einzelnen brauchen: Mehrere haben diesen Aufruf mitunterzeichnet; viele andere wollen ihn unterstützen. Ihre Exekutive hat indes das passende Format bereits zur Hand, um das Thema anzugehen: Die Media Project Group der Kommissarinnen und Kommissare. Unter dem Vorsitz von Vizepräsidentin Jourová bündelt diese Gruppe insbesondere die Zuständigkeiten für die Regulierung der Politikbereiche Digitales (Kommissarin und Vizepräsidentin Vestager), Industriestrategie (Kommissar Breton) sowie die Finanzierung von Innovation und Kompetenzen (Kommissarin Gabriel). Diese Politikfelder sind das, was der Mediensektor nun dringend von der EU braucht.

Frau Präsidentin von der Leyen, Sie haben eine weitaus größere und weitreichendere Krise vor sich und fragen sich möglicherweise: Müssen Sie sich hier einbringen? Die Antwort ist: Nicht direkt; denn vor allem ihre Kolleginnen und Kollegen in ihrem Kommissionsteam müssen sich jetzt viel schneller einbringen und einander annähern.

Aufbauend auf Ihren ursprünglichen Verpflichtungen müssen Sie ihnen lediglich zwei Fragen stellen: Wo ist unser Aktionsplan für Medien und Wer hat dabei die Verantwortung?

Liste der Unterzeichnenden:

MEPs

  • Alex Agius Saliba (S&D)
  • Carmen Avram (S&D)
  • Katalin Cseh (Renew Europe)
  • Anna-Júlia Donáth (Renew Europe)
  • Ivo Hristov (S&D)
  • Danuta Hübner (EVP)
  • Radan Kanev (EVP)
  • Morten Løkkegaard (Renew Europe)
  • Dace Melbarde (EKR)
  • Karen Melchior (Renew Europe)
  • Martina Michels (GUE/NGL)

Ehemalige MEPs

  • Rebecca Harms (Grüne/EFA)
  • Jens Rohde (ALDE)
  • Helga Trüpel (Grüne/EFA)

InteressensvertreterInnen und MedienexpertInnen

  • Gabriele Capolino, Publisher – Class Editori
  • Miguel Castro, Global Partnership – Bill and Melinda Gates Foundation
  • Luciano Morganti, Professor – VUB
  • Pier Luigi Parcu, Director – Centre for Media Pluralism and Media Freedom, European University Institute
  • Pedro Ortun, former Director – European Commission
  • Christian Rainer, Publisher – Profil
  • Francesca Ratti, Co-President – CIVICO Europe
  • Slobodan Sibinčič, Secretary General – European Business Press
  • Marc Sundermann, Lawyer (former EU representative Bertelsmann)
  • Adam Thomas, Director – European Journalism Centre
  • Christophe Leclercq – Fondation EURACTIV

Für weitere Informationen/Anfragen: Christophe Leclercq, founder@euractiv.com,  @FondEURACTIV (@LeclercqEU, #MediaActionPlan)