Kommunalwahlen in der Türkei: Erdoğan verliert, Geist der Gezi-Bewegung hellwach

Martina Michels - Free Leyla Gueven | Foto: GUENGL © 2019

Nachdem kurz vor Mitternacht die Informationen über die finale Auszählung ausblieben, hat in den Morgenstunden auch die Wahlbehörde den Vorsprung von Ekrem Imamoğlu in Istanbul mit über 20.000 Stimmen eingeräumt. Zwar steht noch die Auszählung von etwa 80 Wahlurnen aus, doch stammen diese laut Wahlbeobachter*innen überwiegend aus Istanbuler Stadtbezirken, die als CHP-Hochburgen gelten. Martina Michels, Mitglied im gemischten parlamentarischen EP-Ausschuss EU-Türkei, kommentiert die bis zur Stunde noch nicht amtlich final ausgezählten Kommunalwahlergebnisse in der Türkei:

„Der Geist der Gezi-Bewegung scheint hellwach. Dieses Ergebnis mit den amtlichen Wahlsiegen der CHP-Kandidaten in Ankara, Izmir, Adana und anderen großen Städten, die auch unter Beteiligung von Stimmen von HDP-Wählerinnen und -Wählern zustande kamen, freut mich sehr. Sie zeigen, dass trotz härtester Repression gegenüber der politischen Opposition und einer rasanten wirtschaftlichen Rezession, viele Menschen noch immer den Mut haben, ein Zeichen für eine andere Politik zu setzen. In den Augen eines immer größer werdenden Teils der türkischen Bevölkerung muss sich etwas grundlegend ändern, doch lässt sich wohl davon ausgehen, dass Erdoğan ein schlechter Verlierer ist. Schon jetzt wurden von der AKP Neuauszählungen in Ankara und Istanbul angekündigt, was letztlich ein verlässliches Indiz dafür ist, dass Istanbul einen Bürgermeister der CHP bekommen wird.“

Martina Michels ergänzt: „Wir können nicht übersehen, dass die Wahlen bei allen hoffnungsvollen Ergebnissen eben auch eine tief gespaltene Türkei, ein zerrissenes Land offenbaren. Vier Tote, darunter zwei Wahlhelfer, die in der Provinz Malatya erschossen wurden, sind zu beklagen. Der massive Einsatz von Sicherheitskräften, so wie ich es selbst bei Wahlbeobachtungen in den letzten Jahren in Diyarbakır kennenlernen musste, dienen oft eher der Abschreckung als der Absicherung von freien, gleichen und geheimen Wahlen. Auch dieses Mal gab es Bilder von weggeworfenen Stimmzetteln, enorm hohe Zahlen ungültiger Stimmen, Behinderungen von Wahlbeobachtungen, Beschlagnahmungen von Wahlurnen durch die Polizei und eine Auszählung, die 101 Prozent Wahlbeteiligung in Urfa zusammenbrachte, so dass man schon jetzt von Unregelmäßigkeiten sprechen muss.“

Abschließend hält Martina Michels fest: „Natürlich habe ich mit den Genossinnen und Genossen der HDP, unserer Partnerpartei, mitgefiebert und mich gefreut, dass sie sich in vielen Städten im Südosten, wie Diyarbakır, Batman, Mardin, Iğdır und Cizre, die Rathäuser zurückgeholt haben und damit auch eine Ende der Zwangsverwaltungen absehbar ist. Ihre Doppelstrategie, im Westen die CHP zu unterstützen und im Südosten anzutreten, ist aufgegangen und wird der politischen Opposition insgesamt, so hoffe, ich zu mehr Bündnisfähigkeit und Bewegungsfreiheit verhelfen. Der Tag beginnt mit viel Hoffnung für eine demokratische Türkei und wir alle haben die Verantwortung, diese Entwicklungen zu unterstützen.“

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.