Holocaust-Gedenken: Umschreiben europäischer Geschichte ist genauso gefährlich wie das Vergessen

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Martina Michels

Zum 2005 von der UNO ausgerufenen Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust (27. Januar) anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee vor 75 Jahren, erklärt Martina Michels, Delegationsleiterin der LINKEN im Europaparlament und Mitglied der Parlamentarischen Delegation EU-Israel:

„Das Wissen um den Holocaust nimmt dramatisch ab. Selfies an der Rampe in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Ausschwitz-Birkenau sind inzwischen keine Seltenheit. Das allein könnte genügen, um dem Unfassbaren, der industriellen Vernichtung von Menschen, einen verbindlichen Raum in der Geschichtsschreibung, in Schulen und an öffentlichen Orten überall in Europa zu geben. Stattdessen beobachten wir derzeit zwar ein Anwachsen der Auseinandersetzung um die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, doch diese Debatten sind durchsetzt von Relativierungen des Holocausts und eines beinahe phobischen Verschweigens der Befreiung von den Nazis durch die Rote Armee – von Auschwitz bis Berlin.“

„Am 27. Januar 1945 erreichten Rotarmisten in den Morgenstunden das Konzentrationslager Auschwitz. Es gab keinen Jubel, wie manch nachgestellte Filme uns vermitteln. Anatoly Shapiro schilderte den Anblick der überlebenden Häftlinge: ‚Sie konnten nicht sprechen, nicht einmal die Köpfe wenden.‘ Gleiches berichtete der russische Kameramann Alexander Woronzow im Dokumentarfilm ‚Die Befreiung von Auschwitz‘ von 1985. Tausende wurden von den geflohenen Nazis noch kurz zuvor umgebracht, tausende auf Todesmärsche geschickt. Forschungen ergaben, dass 1,3 Millionen Menschen nach Auschwitz deportiert wurden und über eine Million von ihnen getötet wurden. Sie waren mehrheitlich Jüdinnen und Juden, über 70.000 aus Polen, 21.000 Roma, 14.000 sowjetische Kriegsgefangene, Tschech*innen, Belaruss*innen.“

Martina Michels abschließend: „Umfassendes Gedenken ist heute unweigerlich mit dem Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus verbunden. Der grassierende Geschichtsrevisionismus dient nicht nur der Relativierung des deutschen Faschismus oder neu gefassten Erzählungen über die Opfer zweier angeblich ununterscheidbarer Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Diese Vorstöße, wie sie mit der Geschichtsresolution des Europaparlaments im September 2019 unternommen wurden, dienen auch aktuellen Verbotsszenarien linker Organisationen, sowie der Pflege russophober Feindbilder, jenseits sachlicher Kritik an der russischen Regierung. Das Umschreiben europäischer Geschichte ist genauso gefährlich wie das Vergessen. Machen wir ernst mit dem ‚Nie wieder!‘, klären wir auf, halten wir das dunkelste Kapitel menschlicher Gräueltaten, die ‚Banalität‘ des Bösen, wie Hannah Ahrendt die Reduktion des Massenmordes auf einen Verwaltungsakt nannte, als beständige Mahnung wach.“