Martinas Wochen 36 & 37 – 2020

Müllhalde für Rettungswesten auf Lesbos, existiert seit 2015 | Foto: Robert Liebscher

Martina Michels, Konstanze Kriese

State of the Union – zwischen Moria & business as usual

Evakuiert Moria! – Deutsche Ratspräsidentschaft im Kulturausschuss – REGI-news – Kurden gegen Rassismus und Alarmstufe rot in Berlin

Wir eröffnen heute mit einem Foto von der Insel Lesbos. Der Berg der Rettungswesten wächst seit Jahren. Doch statt den Menschen ein faires Asylverfahren zu ermöglichen, wurden sie eingesperrt und in den überfüllten Hotspots sich selbst überlassen… Der Flüchtlingsdeal von März 2016 ist einer der Sargnägel europäischer Werte. Wer plötzlich erschrocken ist, wenn Moria brennt oder denkt, jetzt müsse man der griechischen Regierung helfen, lenkt zumeist von der eigenen Verantwortung ab, die die Mitgliedsstaaten der EU seit Jahren verschleppt haben, obwohl ein „DublinIV“-Vorschlag für eine humanere Asylpolitik vor mehr als zwei Jahren vom Europaparlament vorgelegt wurde. Der Europäische Rat hat sich jedoch bis zur Stunde nicht bewegt.

Obwohl nächste Woche das erste Plenum des Europaparlaments nach der Sommerpause startet, wird niemand nach Strasbourg reisen. Erneut schleicht sich das ungebändigte Virus COVOD 19 ins Bewusstsein. In besonderer Weise gilt dies auch für diejenigen, die aus beruflichen und politischen Gründen zwischen ihrem Zuhause, ihren Familien und Freunden und Brüssel und Strasbourg pendeln. Doch Frankreich und auch Belgien hatten bisher nicht so viel Glück inmitten der Corona-Pandemie wie Deutschland. Die Infektionszahlen steigen bei unseren Nachbarn schon wieder erheblich. Die nie ganz aufgehobenen Lockdowns bedeuten z. B. Maskenpflicht im gesamten Brüsseler Stadtgebiet, eingeschränktes Reisen, keine Plenartagung im französischen Strasbourg, weiteres Homeoffice und außerhalb des Parlaments weitere Rückschläge für Unternehmen, Kultur, Bildung, sowie ein Pflege- und Gesundheitssystem unter wachsendem Druck.

Die Ausschüsse hatten schon Ende August die Arbeit wieder aufgenommen, so dass die Lage z. B. in der Kulturbranche erneut Gegenstand im Kulturausschuss war, zu dem – genau wie in vielen anderen Ausschüssen – deutsche Regierungsvertreter*innen angereist waren, um über den Stand der Vorhaben während der laufenden Deutschen Ratspräsidentschaft zu berichten.

Brüssel 2020 | Foto: Konstanze Kriese

In Berlin tobten nicht nur Skeptiker*innen und Nazis Ende August herum, die die wahrlich sehr uneinheitlichen Corona-Maßnahmen zum Anlass nahmen, um entweder ihren kruden Machtfantasien freien Lauf zu lassen oder ein Stück Stoff über Mund und Nase zum Symbol von Grundrechtseinschränkungen auserkoren hatten, um gegen die Bundesregierung und die mediale Berichterstattung zu protestieren, obwohl die Aufmerksamkeit für ihre Demonstration ungleich höher ist als bei jeder noch so machtvollen #Unteilbar- oder #FridayForFuture-Aktion. Überdies fragt man sich doch, wo diese wütenden Menschen sind, wenn für andere Menschen das Grundrecht auf Asyl ausgehebelt wird, Grundrechte auf Bildung, Nahrung, Behausung und gesundheitliche Versorgung seit Jahren mit Füssen getreten werden. Sicher, man muss über Existenzbedrohungen durch die Corona-Maßnahmen an jedem Ort wirklich reden und sicher ist da auch viel nötiger Dialog ausgeblieben. Doch man wurde das Gefühl nicht los, dass bei der Anti-Corona-Maßnahmen-Demonstration häufig Egomanie mit Freiheit verwechselt wurde und der Schulterschluss mit Nazis von vielen Mitdemonstrant*innen hingenommen wurde. Nur genau das zieht jede sinnvolle Debatte um Grundrechtseinschränkung durch eine trübe braune Suppe für die man keinerlei Verständnis haben muss. Dass man die Wut im Bauch gegen unzulängliche Politik oder schlecht gestrickte Corona-Hilfen auch anders ausdrücken kann, zeigten z. B. Kurdische Vereine im einer Manifestation gegen Rassismus am 6. September am Brandenburger Tor oder die Veranstaltungsbranche am 9. September bei einer Großdemonstration in Berlin.

Vorausschau auf die Plenarwoche u. a. mit der State of the Union-Debatte (#SOTEU), Moria, Regional- und Kulturpolitik

Ursula von der Leyen wirbt für ihre Kandidatur zur Kommissionspräsidentin, September 2019 | Foto: Oliver Hansen (GUE/NGL)

In der kommenden Woche steht im Mittelpunkt des Plenums am Dienstag Vormittag die einmal im Jahr angesetzte „State of the European Union“-Rede der Kommissionspräsidentin von der Leyen und die anschließende Aussprache. Nach der Eskalation der humanitären Katastrophe in Moria wäre es jedoch ratsam, statt emphatischer Worte der Kommissionspräsidentin, dass man nun Griechenland unterstützen muss, um die prekäre Lage der Asylbewerber*innen zu beenden, sich endlich einzugestehen, dass das brennende, seit Jahren völlig überfüllte Camp, eine Folge der EU-Flüchtlingspolitik. ist Es wäre an der Zeit, in der kommenden Woche, endlich ein flüchtlingspolitisches Konzept vorzulegen, das Menschen in Not nicht in Hotspots sperrt und wie Gefangene behandelt, das die Seenotrettung wieder aufnimmt, ein schnelle Registrierung und Verteilung bewältigt und auf der anderen Seite die europäische Beteiligung an kriegerischen Konflikten insbesondere durch Waffenlieferungen beendet und ökologische Standards in jede Form von Wirtschafts- und Entwicklungshilfe einschreibt. Flucht & Migration hat gerade erst begonnen auch Europa zu fordern und mit Wegschauen kommen wir hier ganz sicher in den kommenden Jahren nicht weiter. Unsere migrationspolitische Sprecherin, Conny Ernst, hat sich schon vor dem Plenum geäußert und wird auch voraussichtlich in der kommenden Woche, gemeinsam mit Abgeordneten der GUENGL-Fraktion – trotz Plenarwoche – nach Moria fahren.


Regional
– und kulturpolitische Entscheidungen stehen neben vielen anderen Abstimmungen auch in der kommenden Woche auf dem Programm. Unsere Fraktion hat eine eigenständige Resolution aufgesetzt und mit anderen Fraktionen abgestimmt, in deren Mittelpunkt nochmal die bisher nicht wirklich passgenauen Corona-Hilfen für Kulturproduzent*innen stehen. In unserem Plenarfokus findet ihr einen Überblick über weitere Themen der Woche, der ab morgen dann auch hier im Link und auf der Homepage unserer Delegation zu finden ist.

Und natürlich geht es derzeit an allen Ecken und Enden um den EU-Recovery-Plan und der damit verbundenen Möglichkeit, die restriktive Sparpolitik der EU endlich aufzubrechen. Dazu – siehe unser Tipp am Ende – müssen wir uns ohnehin längerfristig verständigen, denn es kann einer breiten europäischen gesellschaftlichen Linken wirklich nicht einerlei sein, wenn ein politisches Fenster geöffnet ist, in dem alle nationalen und europäischen Versionen der Schwarzen Null endlich geld-, wirtschafts- und haushaltspolitisch gekippt werden könnten. Es wäre an der Zeit, wenn endlich makroökonomische Vernunft in die Politik Eingang findet und damit Sparpolitiken und die Privatisierung öffentlicher Investitionen dauerhaft unterbunden werden.

Grusswort von Martina Michels an die Manifestation Kurdischer Vereine gegen Rassismus

Brandenburger Tor, 6.9.2020, Kurd*innen gegen Rassismus | Foto: Konstanze Kriese

Am 6. September strahlte die Sonntagssonne über Berlin. Die unsägliche EU-Politik, die das brennende Moria auf dem Gewissen hat, wirft immer auch zugleich ein Licht auf die EU-Türkei-Beziehungen und die EU-Politik in Syrien. Deshalb hieß es in Martina Michels Grusswort an die Kurdischen Vereine, die mit viel Musik und Gespräch an diesem Tag präsent waren: „Wir sind in den vergangenen Jahren nicht müde geworden darauf aufmerksam zu machen, dass die EU und auch die Bundesregierung nicht schuldlos sind am Schalten und Walten Erdoğans. Schon Wochen vor der zweiten Wahl zur Türkischen Nationalversammlung im Jahre 2015 war es mehr als offensichtlich, dass es einen Versöhnungskurs mit Kurdinnen und Kurden von Seiten der AKP nicht geben wird. Doch die EU hat dazu weitgehend geschwiegen. Und schlimmer noch: Mit dem unsäglichen Flüchtlingsdeal 2016 haben sich die reichen europäischen Staaten in eine grauenvolle Abhängigkeit von Erdoğan begeben und ihre Hausaufgaben für eine humane Flüchtlingspolitik bis heute nicht gemacht.“ 

Monika Grütters, Michelle Müntefering, Anja Karliczek in Brüssel & die „Alarmstufe Rot!-Demonstration“ in Berlin

Alarmstufe Rot – Demonstration der Veranstalter*innen, 9.9.2020 | Foto: Konstanze Kriese

Weltfriedenstag, am 1. September, und es tagt der Ausschuss, der selbst einen besonderen Beitrag zum Internationalen friedlichen Austausch leistet. Es ging an diesem Tag um die Vorhaben der Deutschen Ratspräsidentschaft. Eigentlich konnte man sogar ein wenig Bilanz erwarten, denn die Deutsche Ratspräsidentschaft ist immerhin seit dem 1. Juli in Amt und Würden. Und ja, die Corona-Pandemie hat die Ratspräsidentschaft in eine außergewöhnliche Situation gebracht. Wer nun glaubte, dass an diesem Tag mutig, konzeptionell und nachhaltig die europäische Kultur-, Medien- und Bildungspolitik angepackt wurde und auch noch klare Haltungen zu den Mittelkürzungen der Europäischen Kommission erwartete, war am Abend reichlich frustriert. Die Auftritte fanden aus den üblichen Sonntagsreden kaum hinaus und das Gefühl, dass die Ratspräsidentschaft sich da mit handfester Politik eingedeckt hatte, wollte sich nicht einstellen. Martina Michels hatte dann bei der Bildungspolitik im Ausschuss Stellung zweifach Stellung genommen und die unbefriedigende Situation in der Kulturpolitik in einer Kolumne im ND zusammengefasst.

Da war es dann schon eine gewisse Genugtuung mit dem halben Team auf der „Alarmstufe Rot“-Veranstaltung vertreten zu sein, zumal diese Veranstaltung sogar die griechischen Kolleg*innen im Kulturausschuss interessierte, sodass wir die halbe Homepage der Alarmstufe Rot-Organisatoren übersetzt haben und den Forderungskatalog somit weit über die deutschen Besonderheiten hinaus bekannt gemacht haben. Am Ende müssen Corona-Hilfen überall passgenau sein und warum sollen wir, wenn wir uns schon in Brüssel treffen, nicht voneinander lernen. Besonders beeindruckend fanden unsere Kolleginnen und Kollegen dann auch das Video der Demonstration, dass Peter Cichorius zusammengestellt hatte.

Skulptur am Eingang ds Europaparlementsgebäudes in Brüssel, Rue Wiertz | Foto: Konstanze Kriese

Tipp:  EU Recovery: Public debt and the ECB / EU-Rettung: Öffentliche Schulden und die EZB

Mittwoch, 23. September 2020, 20:00 – 22:00

Ein Online-Talk mit Emma Clancy, wissenschaftliche Mitarbeiterin aus dem Büro von unsere Fraktionsvorsitzenden Martin Schirdewan

ÖKONOMIE JENSEITS DER SCHWÄBISCHEN HAUSFRAU

und hier könnt ihr euch anmelden.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.