Martinas Woche 13 – 2020: Sofortprogramme ohne Eurobonds?

Mittagspause während des Homeoffice | Foto:Konstanze Kriese

Martina Michels, Konstanze Kriese

EU-Gremien tagten – Portugal bürgert ein – Deutschland verweigert Europäische Schuldenaufnahme – Gesundheitspolitik europäisch – Medien in der Klemme – Literatur als Lebensmittel

Heute starb der Antifachist Manolis Glezos. Wir trauern und erinnern.

Arbeiten im Homeoffice zählt eher zu den privilegierten Formen, den Alltag mit den Corona-Lockdowns zu bewältigen. Das betrifft viele Mitarbeiter*innen und Abgeordnete der Europäischen Institutionen. Doch sie müssen, ob im Schlabberlook oder mit einem halben Bein im Kinderzimmer, ungewöhnliche Entscheidungen vorbereiten, ihren Beitrag leisten, damit ein Parlament funktions- und entscheidungsfähig ist. Das kann auch bedeuten, über Nacht neue Abstimmungsprocedere zu erlernen, neue Technik zum Laufen zu bringen. Die schon eingetretene Überforderung in den Krankenhäusern in Italien, Frankreich oder Spanien, bedeutet für uns überdies auch, unsere Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern, die von der Corona-Pandemie schon jetzt enorm betroffen sind, zu trösten, zu ermutigen, Anteil zu nehmen.

Und nichts geht so nebenbei, vor allem wenn Kinder zu beschäftigen sind oder gar die Schularbeiten mit ihnen erörtert werden, wenn Nachbarn erkranken, Familien, Freundinnen und Freunde nur digitalen Kontakt halten können.

Der politische Blick auf den Alltag mir der Corona-Epidemie, auf das Leben mit und nach Corona, auf alle Fehlstellen solidarischen politischen Handels, massiv sichtbar auf den griechischen Inseln, wo selbst Schwangeren die medizinische Versorgung vorenthalten bleibt, durchzieht einerseits unseren beruflicher Alltag, so wie sonst auch. Anderseits brauchen auch wir frische Luft, Pausen und Auszeiten, Hoffnung und Austausch. Unser Wochenrückblick kann weder vollständig noch erschöpfend sein. Inmitten der Informationsflut, hat er derzeit nur Sinn, wenn er exemplarisch aufzeigt, wo Europapolitik dringend ist, wo sie einmal mehr versagt und droht, aus Corona-Krisen die nächste Finanzkrise mit zu generieren. Wir stehen also aus unterschiedlichen Perspektiven vor der Frage, wie man eine demokratische Debatte, Akzeptanz und solidarische Entscheidungen mit und nach Corona organisiert und was wir dazu konkret beitragen können.

Wir trauern um den Antifaschisten Manolis Glezos

Martina Michels und Manolis Glezos 2015 | Foto: Ulrich Lamberz

Heute erreichte uns die Nachricht, dass unser Genosse Manolis Glezos gestorben ist und wir übermitteln seiner Frau, der Familie und den Genossinnen und Genossen unsere Anteilnahme. 

„1941 riss Manolis die Hakenkreuzfahne von der Akropolis. Er war schon ein Held, bevor die meisten ihn von uns kennenlernten. Von den Faschist*innen wurde er mehrfach zum Tode verurteilt, lebte viele Jahre auf der Flucht. Bis zum Ende der Obristen-Diktatur 1974 war er mehrfach in Haft. Manolis Glezos wurde am 9. September 1922 und starb heute, am 30. März 2020…“ Martina, die alte und die neue Delegation im Europaparlament und natürlich auch unser Team verband eine große Freundschaft mit Manolis und viele gemeinsame Veranstaltungen, vor allem im Jahre 2015, sein letztes Jahr im Europäischen Parlament. 

Mitgliedsland der Woche: Portugal    

Portugal hat am Samstag allen Menschen, die einen Antrag auf Arbeitserlaubnis, Zuwanderung oder Asyl gestellt haben, bis zum 1. Juli einfach zu Staatsbürgerinnen und Bürgern Portugals erklärt. Damit haben sie vollen Zugang zum Gesundheitssystem, zu Arbeitsgelegenheiten, zu Wohnraum und zu Sozialleistungen. Die Portugiesischen Politiker*innen haben nicht auf die EU geschaut und, wie wir es so oft hören, gesagt, so etwas gehe nur gemeinsam europaweit, sondern gehandelt. Der Europäische Rat sollte sich in seiner kommenden Tagung Anfang April darauf einigen, die portugiesische Solidarität gegenüber Migration*innen und Asylsuchenden zu einer europäischen Lösung zu machen. Warum dies ziemlich erheblich ist, beschreibt unter anderem dieser Artikel, der mitten in der Heimatstadt von Martina Michels, mitten in Berlin, zeigt, wie es ist, wenn Corona-Hilfspakete ausgereicht werden, man aber gar keine EU-Bürgerin, kein EU-Bürger ist. Oliver Kontny hat den Artikel von Eren Paydas in der taz.gazete übersetzt. 

Europäische Hilfsprogramme ohne Eurobonds? – Europaparlament und Europäischer Rat tagten am 25. und 26. März 2020

Das Europaparlament beschließt die Hilfspakete der EU-Kommission

Foto: Louise Schmidt

Am Donnerstag tagte das Europaparlament, erstmalig weitgehend digital. Doch es sprachen die EU-Kommissionspräsidentin und der Parlamentspräsident, auch manche der wenigen Abgeordneten, die noch in Brüssel waren. Die Kommission hatte ein Abstimmungspaket an ersten Sofortmaßnahmen vorgelegt, die Martina Michels als Delegationssprecherin kommentierte, aber in der mangelnden Reichweite auch kritisierte: „Wir finden es wichtig und richtig, dass die EU jetzt ein erstes Hilfspaket auf den Weg bringt, um ihren Mitgliedstaaten schnell zu helfen. Europäische Solidarität muss das Gebot der Stunde sein. Denn die Lage in einigen Ländern ist dramatisch, es geht um Leben und Tod. Deshalb haben die Abgeordneten der LINKEN selbstverständlich für diese Hilfsmaßnahmen gestimmt…“

Interessant waren die Erkenntnisse von Frau von der Leyen, die nun feststellen musste, dass es bisher keinerlei solidarischen Katastrophenplan der medizinischen Unterstützung in der EU gäbe, wir aber nun sehen, dass wir einen solchen dringend brauchen. So konnte sie denn nur auf leuchtende Beispiele der Hilfe zwischen den Mitgliedstaaten eingehen oder auch klar machen, dass sie mit der Kommission sofort gegen das protektionistische Gegenteil vorgegangen sind,  z. B. als Deutschland einem Beatmungsgerätehersteller den Export untersagen wollte. Immerhin. Überdies mussten ohnehin auch solche Hersteller ihre Zulieferabhängigkeit von asiatischen Produzent*innen eingestehen, so dass derzeit auch europäische Beschaffungspolitik von Schutzbekleidung, Medizintechnik u. a. gefragt ist, die immerhin versprochen wurde. Letztlich hoffen wir alle inständig und können politisch auch etwas dafür tun, dass all die plötzlichen Erkenntnisse nicht kurz aufflackernde Gedanken bleiben, sondern noch gültig sind, wenn wir uns fragen: Was werden wir nach Corona für Gesellschaften sein und welche Politik schützt uns nachhaltig vor derartigen Krisen?

Was hat das Europaparlament beschlossen?

1. „Die Investitionsinitiative zur Bewältigung der Coronakrise („Corona Response Investment Initiative“): Mit diesen Maßnahmen sollen 37 Milliarden Euro aus den verfügbaren EU-Mitteln so schnell wie möglich an die von der Coronavirus-Pandemie am stärksten betroffenen Bürger, Regionen und Länder weitergeleitet werden. Die Mittel werden an die Gesundheitssysteme, KMU, in die Arbeitsmärkte und andere gefährdete Wirtschaftsbereiche der EU-Mitgliedstaaten geleitet. Der Vorschlag wurde mit 683 Stimmen bei einer Gegenstimme und vier Enthaltungen angenommen.“

2. „Die Ausweitung des EU-Solidaritätsfonds auf Notfälle im Bereich der öffentlichen Gesundheit: Durch die Maßnahmen werden im Jahr 2020 den europäischen Ländern bis zu 800 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die im Rahmen des Fonds zuschussfähigen Maßnahmen werden auf folgende Bereiche ausgeweitet: Die Unterstützung im Falle einer Notlage größeren Ausmaßes im Bereich der öffentlichen Gesundheit, einschließlich medizinischer Hilfe, sowie Maßnahmen zur Prävention, Überwachung oder Bekämpfung der Ausbreitung von Krankheiten. Der Vorschlag wurde mit 671 Stimmen bei 3 Gegenstimmen und 14 Enthaltungen angenommen.“Flughafen Brüssel „rushhour“ am 10. März 2020

3. „Vorübergehende Aussetzung der EU-Vorschriften über Zeitnischen auf Flughäfen: Dadurch wird verhindert, dass Fluggesellschaften während der Pandemie Leerflüge durchführen. Die vorübergehende Aussetzung bedeutet, dass die Fluggesellschaften nicht verpflichtet sind, ihre geplanten Start- und Landezeitnischen zu nutzen, um sie in der nächsten Saison zu behalten. Die Verfallsregel bei Nichtnutzung („use it or lose it“) wird für die gesamte Sommersaison vom 29. März bis zum 24. Oktober 2020 aufgehoben. Der Vorschlag wurde mit 686 Stimmen bei keiner Gegenstimme und zwei Enthaltungen angenommen.“

Flughafen Brüssel „rushhour“ am 10. März 2020 | Foto: Martina Michels

Der Europäische Rat: Deutschland u. a. verweigern Solidarität

Mit einigem Entsetzen blicken wir auf die Ergebnisse des Ratsgipfels vom 26. März. Einmal mehr verhindern wenige Staaten Eurobonds und damit einen gemeinsamen europäischen Schuldenmechanismus, der für alle Staatsanleihen dieselben Bedingungen schafft. In der gemeinsamen Erklärung des Rates liest sich das unter Punkt 14 folgendermaßen: „Wir nehmen die Fortschritte zur Kenntnis, die die Euro-Gruppe erzielt hat. In dieser Phase ersuchen wir die Euro-Gruppe, uns innerhalb von zwei Wochen Vorschläge zu unterbreiten. Diese Vorschläge sollten der beispiellosen Natur des COVID-19-Schocks, der alle unsere Länder betrifft, Rechnung tragen, und unsere Reaktion wird erforderlichenfalls verstärkt; dabei werden vor dem Hintergrund der Entwicklungen weitere Maßnahmen inklusiv getroffen, damit eine umfassende Reaktion erfolgen kann.“ In vielen Medien wurde das Ergebnis der Videokonferenz, vor allem diese Vertagung weiterer Lösungen um 14 Tage entsprechend deutlich kritisiert. Vor der Tagung hatten über 400 Wissenschaftler*innen europaweit Eurobonds gefordert.

Ziemlich klar und unmissverständlich übte auch der Parlamentspräsident Sassoli Kritik an der Reichweite der Europäischen Hilfsprogramme und verwies dabei klar auf einen gemeinsamen fehlenden Schuldenmechanismus, der zum Beispiel durch Eurobonds – derzeit auch Corona-Bonds genannt, erreicht werden könnte. Martin Schirdewan erweitert die Kritik durch eine Forderung nach einem Europäischen Marshall-Plan.

GUENGL-Fraktion mit eigenem Forderungskatalog zur Verhinderung einer neuen Finanzkrise

Martin Schirdewan | Foto: Sven Serkis

„Die Corona-Krise ist eine gesellschaftliche Krise. Diese wollen wir solidarisch bewältigen… Der Neoliberalismus macht uns zu Einzelnen, wir wollen anders leben. Niemand wird allein gelassen.“ Deshalb hat die GUENGL-Fraktion, die linke Fraktion im Europaparlament einen Emergency Response Plan vorgelegt, bei dem die Aussetzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ganz oben steht, eine Forderung, die durch die Kommissionsvorhaben und das Handeln der EZB gerade erfüllt werden. Doch es sollen auch Fonds neu ausgerichtet, KMUs besser unterstützt werden, Vorschriften für stattliche Beihilfe fallen und es wird u. a. ein „Helikoptergeld“, eine bedingungslose Zahlung von mindestens 2000 € an jede EU-Bürgerin, jeden EU-Bürger vorgeschlagen, ein Konzept, dass waghalsig erscheint, aber schon lange diskutiert wird. Den gesamten Katalog findet ihr hier.

Auswirkungen der Corona-Krise und unsere demokratische Infrastruktur: Medien und Grundrechte

In zwei offenen Briefen an die EU-Kommissionspräsidentin melden sich ganz unterschiedliche Akteure zu Wort.

Einmal geht es um die Lage der Medien, denn ziemlich nachweislich gelang es öffentlich-rechtlichen Medien in der Informationsflut z. B. ein Fels in der Brandung von Fake-News zu sein und so zu geprüfter Information von Bürgerinnen und Bürgern europaweit beizutragen. Doch nicht nur öffentlich-rechtliche Sendeanstalten haben hier ihren Anteil. Auch private Medien und eben letztlich die Arbeit vieler freischaffender Journalistinnen und Journalisten, die unter schwierigen Bedingungen und in großer Unsicherheit arbeiten. Politiker*innen des Europaparlaments, NGOs, Berufsverbände u. a. wenden sich daher an die EU-Kommissionspräsidentin in einem Brief, damit die Lage der Medien in den akuten und langfristigen politischen Schritten nicht wieder zwischen Programmstrukturen zerrieben wird. Hier ist der Brief, den Martina Michels als Erstunterzeichnerin mitgetragen hat.

In einem anderen offenen Brief geht es besonders nochmals um die Lage Geflüchteter, Innenpolitiker*innen des Europaparlaments schrieben hier ebenso an Ursula von der Leyen: „Gewalt gegen Journalist*innen und freiwillige Helfer*innen, Tränengas gegen Geflüchtete und Schutzlosigkeit gegen die Ausbreitung des Corona-Virus: In den vergangenen Wochen konnten wir live mitverfolgen, wie in Griechenland die Aushöhlung von Grundrechten und der Verfall der Rechtsstaatlichkeit vonstattengehen. Mit unserem Schreiben, dem sich 119 weitere Europaabgeordnete anschlossen, fordern wir die EU-Kommission dazu auf, unverzüglich zu prüfen, zu beobachten und zu handeln. Das Corona-Virus darf nicht als Vorwand genutzt werden, um das Asylsystem auszusetzen oder verbriefte Grundrechte zu missachten. Im Gegenteil: Das Corona-Virus muss dringender Anlass sein, endlich zu handeln und eine weitere Verbreitung der Pandemie zu verlangsamen. Dazu müssen die Menschen aus den überfüllten Lagern von den griechischen Inseln in Sicherheit gebracht werden.“ Hier ist der ganze Brief, den Cornelia Ernst mitgetragen hat, nachlesbar.

Literatur und Geschichten prägen Verhalten, auch derzeit: „Überleben allein ist unzureichend.“

Wie beeinflussen uns Erzählungen während der Corona-Krise? Welche Literatur ist längst Teil unseres kulturelles Gedächtnisses? Wie schärfen Bücher oder Filmerzählungen Solidarität oder Egoismen, sind Begleiterinnen für Handlungsmaxime. Diese Frage stelle Elke Brüns in der TAZ und sie beendet ihren Ritt durch Literatur und Filmgeschichte mit Star Trek und der Frage: „Welchem Narrativ werden wir folgen? Mir persönlich gefällt die Haltung der ‚Symphonie‘ in ‚Das Licht der letzten Tage‘. Diese fahrende Truppe führt Shakespeare-Stücke mit Orchesterbegleitung auf. Sie kämpfen nicht um Benzin, töten liegt ihnen fern, aber sie verteidigen sich. Auf einen ihrer nun von Pferden gezogenen Wohnwagen haben sie ein ‚Star Trek Voyager‘-Zitat geschrieben: ‚Überleben allein ist unzureichend‘.“ Damit formuliert sie überdeutlich, dass es nicht egal ist, wie wir aus der Krise kommen: politisch, kulturell, lebensweltlich. Werden wir eine solidarischere Gesellschaft sein, die das profitorientierte Wirtschaften, die Anbetung des Marktes oder die Privatisierung von Gesundheit oder Bildung endlich auf den Prüfstand stellt? Werden wir unseren Nachbarn an den Europäischen Außengrenzen noch in die Augen schauen können? Ja, wir brauchen schnelle politische Entscheidungen, bei denen derzeit sicher auch Fehler gemacht werden. Wir brauchen die Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen, einschließlich der Achtung des Wissens und der Erfahrung von Pflegekräften. Wir benötigen das Know how von Sozialpsychologie*innen und Krisenmanager*innen in vielen Lebenslagen. Wir brauchen den demokratischen Dialog, die kulturelle Erzählung, die Sicherung von Freiheitsrechten, die durch die Infektionsschutzgesetze und deren überschnelle Revisionen derzeit massiv eingeschränkt sind.   

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.