Krisen-Regierungsbildung in Israel – ein Kommentar

Martina Michels, NoraSchüttpelz

Nach drei Parlamentswahlen innerhalb eines Jahres und monatelangen vergeblichen Koalitionsverhandlungen steht Israel nun vor einer Regierungsbildung. Doch der Preis ist möglicherweise hoch. Benny Gantz‘ politisches Bündnis „Blau-Weiß“ war der einzige ernstzunehmende Herausforderer des rechten Premiers Benjamin Netanjahu. Das gemeinsame Ziel, ihn als Premierminister abzulösen, war der einigende Konsens gewesen und das zentrale wirksame Wahlversprechen. Im Streit über den Schritt, in eine Koalition mit dem Gegner einzutreten, zerbrach das Bündnis und schrumpfen die Zustimmungswerte. Nur der verbleibende Teil (17 bei den Parlamentswahlen Gewählte) von Blau-Weiß tritt wohl in die Koalition ein, Netanjahus Likud ist dagegen mit 36 Sitzen die stärkste Fraktion.

Doch nicht nur Enttäuschung über die verpasste Chance, die Regierungszeit des wegen Korruption angeklagten Premiers zu beenden, ist eine Folge der Koalitionsbildung.

Hinzu kommt der Skandal, dass Netanjahu trotz Gerichtsverhandlung zunächst Regierungschef, nach 18 Monaten Vize-Premier bleiben kann. Seine Partei erhält voraussichtlich den Vorsitz über den Justizausschuss in der Knesset und Einfluss auf die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten, damit implizit möglicherweise über ein Berufungsverfahren im Falle Netanjahus.

Die kommenden sechs Monate, so vereinbarten Gantz und Netanjahu, sollen in Israel eine „Notstandsperiode“ sein. Gesetzesinitiativen ohne Bezug zur Corona-Pandemie setzen in dieser Zeit vorab die Zustimmung der Koalitionspartner voraus – mit einer Ausnahme: Gesetzesvorhaben, die eine Annexion palästinensischer Gebiete im Westjordanland betreffen. Den Segen der US-Regierung hat Netanjahu längst, eine Mehrheit in der Knesset ist möglich. Der palästinensische Ministerpräsident Mohammed Schtajjeh wird zitiert, dies sei eine „Annexionsregierung“, Israels neues Regierungsbündnis stehe für ein „Ende der Zwei-Staaten-Lösung“ und werde die Rechte des palästinensischen Volkes weiter abbauen. Der Hohe Vertreter für die EU-Außenpolitik, Joseph Borrell, hat vorsichtiger vor einer Annexion besetzter Gebiete gewarnt: „Jede Annexion würde einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Völkerrecht darstellen“. Die EU werde die Lage genau beobachten und entsprechend handeln. Erneut verweigerten einige EU-Außenminister während ihrer Ratstagung in dieser Woche ihre Unterstützung für ein gemeinsames Statement. So steht Borrell dafür offiziell nur mit seinem Namen und Funktion, wenngleich einige Außenminister ihn darin öffentlich bestärkten. Die EU-Mitgliedstaaten schaffen es also einmal weniger, mit einer Stimme zu sprechen. Das Gipfeltreffen zur COVID19-Krise ist ja in dieser Woche ebenfalls ohne befriedigendes Ergebnis geblieben.

À propos, zurück zu Covid19:  Israels öffentliches Gesundheitssystem ist eigentlich gut, modern und mit europäischen zu vergleichen. Leider auch, was Unterfinanzierung und Privatisierungen angeht, was wie üblich in der Regel zulasten der weniger privilegierten Bevölkerungsteile geht. Eine Besonderheit in Israel ist, dass dazu auch ein Großteil der 20% arabisch-palästinensischen Israelis gehören – nicht zu schweigen von Palästinensern, die in den besetzten Gebieten leben. Israel als Besatzungsmacht ist für die Pandemie-Reaktion in dem von ihm besetzten Gebiet verantwortlich, scheint dieser Verantwortung jedoch nicht nachzukommen. Einschränkungen der Freizügigkeit sind eine echte Herausforderung für wichtige Dienste wie Krankenwagen und den Transport von Ausrüstung für Krankenhäuser. Die palästinensischen Behörden hatten daraufhin im März den Ausnahmezustand im Zusammenhang mit der Verbreitung des Coronavirus erklärt. Eine mobile Klinik, die von der EU-Mission für Grenzhilfe gespendet wurde, wird als Screening-Station für Reisende genutzt, die im Westjordanland ankommen. Ebenfalls im März hat die israelische Armee eine palästinensische provisorische Klinik im Dorf Khirbet Ibziq im besetzten Westjordanland abgerissen und auch andernorts gehen Zerstörungen von Wohngebäuden und ziviler Infrastruktur trotz Covid19-Krise weiter.

Israel hat als eines der ersten Länder teilweise drastische Schutzmaßnahmen und Reisebeschränkungen eingeführt, die zu wirken scheinen, Zugleich läßt sich die von Konflikten und Gräben geprägte Gesellschaft von der Nutzung ihrer Bürgerrechte nicht abhalten. Und während in Deutschland Demonstrationen mit größerer Teilnehmerzahl mit Blick auf Infektionsschutzauflagen untersagt werden, haben sich bereits Mitte April am Rabin-Platz in Tel Aviv einige Tausend Menschen versammelt, um gegen antidemokratische Maßnahmen der Netanjahu-Regierung im Zeichen der Corona-Bekämpfung zu demonstrieren. Der Platz wurde mit Markierungen versehen, um den gebotenen Sicherheitsabstand zum Infektionsschutz zwischen den Protestierenden zu wahren, wodurch ihnen ermöglicht wurde, ihre Wut auf die sich abzeichnende Regierungsbeteiligung bisheriger Opposition und deren Zugeständnisse in rechtsstaatlichen Fragen zum Ausdruck zu bringen. Das Bild ging durch alle sozialen Medien. Auch der Partei-Vorsitzende mit 15 Abgeordneten in der Knesset vertretenen oppositionellen „Gemeinsamen Liste“, Ayman Odeh, war eingeladen auf der Bühne zu sprechen. Seine Botschaft: Es kann keine Demokratie geben ohne das Ende der Besatzung; nur ein gemeinsamer jüdisch-arabischer Kampf kann eine erfolgreiche Alternative zu Netanjahu darstellen. 

An diesem Samstag protestierten erneut Tausende – mit Abstand und Atemschutzmasken – in Tel Aviv gegen die Koalitionsvereinbarungen, die Netanjahu das Weiterregieren ermöglichen werden und warnen vor einer Erosion der Demokratie, die die geplante Allianz mitsichbringen kann. 

Wenn die EU, wie ihr Außenbeauftragter Borrell in seinem Statement übrigens auch betonte, eng mit der neuen israelischen Regierung bei der Bekämpfung des Coronavirus zusammenzuarbeiten will, muss die Gesundheit aller Bürgerinnen und  Bürger und die Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen im Sinne aller Bevölkerungsteile gemeinsame oberste Priorität haben. Die 27 EU-Mitgliedstaaten müssen sich jedoch endlich zusammenraufen und in der Frage der Annexionspläne, der Zerstörungen von Wohnhäusern und Infrastruktur sowie der Besatzung insgesamt klar Position dagegen beziehen. Europäische Solidarität ist nicht nur in Europa einmal mehr nötig, sondern global. Flüchtlinge dürfen nicht an der griechischen oder türkischen Grenze sich selbst überlassen werden und auch nicht anderswo. Die UNRWA und andere Hilfsorganisationen, die Hilfen für die Ärmsten auf der Welt organisieren, müssen in der Krise stärker noch als in „normalen“ Zeiten finanziell und politisch unterstützt werden. 

Und wie wir kritisch auf die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Polen oder Ungarn blicken, so darf Europa auch gegenüber diesem Partner die rosa Brille ruhig öfter ablegen. 

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.