„Wir kämpfen weiter, aber wir kämpfen mit Würde”

Martina Michels reiste zum dritten Mal, zweimal davon zur Wahlbeobachtung, in die Türkei – Ein fortgesetzter Reisebericht

In acht bis zehn Tagen wird das amtliche Endergebnis der Wahlen in der Türkei erwartet. Eine Art Livestream und erste Auswertungen gab es von Ismail Küpeli, sowie von Florian Wilde beim ND, von Deniz Yücel bei der Welt und Özlem Topçu in der ZEIT.

Diyarbakir zwischen Attentat und Wahlerfolg – Juni 2015

Gleich zweimal in diesem Jahr gingen Bürgerinnen und Bürger der Türkei an die Wahlurnen, einmal am 7. Juni und nun am 1. November 2015. Martina Michels fuhr im Juni, kurz vor der Wahl, zu Gesprächen und zur Wahlbeobachtung in die Millionenstadt Diyarbakir. Der HDP wurde damals die Einladung von Wahlbeobachtern mit der Begründung verwehrt, dass die noch junge Partei nicht in Fraktionsstärke im Türkischen Parlament säße, sondern nur im Laufe der vorangegangenen Legislatur durch Einzelabgeordnete vertreten war. So organisierte die HDP damals eine unabhängige selbstorganisierte Wahlbeobachtung, an die 150 Beobachterinnen und Beobachter von zivilgesellschaftlichen Organisationen kamen, Martina war im Auftrag der GUENGL-Fraktion vor Ort. Der Auftakt geriet für viele zur ersten bitteren Begegnung mit einer Atmosphäre, die mit friedlichen und demokratischen Wahlen wenig zu tut hat. Auf der Abschlusskundgebung der HDP in Diyarbakir wurden 3 Menschen nach einem Bombenanschlag getötet und hunderte in die umliegenden Krankenhäuser gebracht. Die meisten Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter kamen kurz nach dem Anschlag und erlebten eine Stadt unter Schock, Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, denen es scher fiel zu sprechen, die die Nacht im Krankenhaus verbracht hatten. Wir hatten damals berichtet, vor allem auch von dem Stolz, die Ruhe zu bewahren, die Energie in Autokorsos zu kanalisieren, sich nicht provozieren zu lassen. Wir sahen damals städtische Busse mit HDP-Fahnen, sogar einen Polizeiwagen. Immer wieder rissen Kinder und Jugendliche die Wimpelketten von den Bäumen und verteilten sie an Passanten und in die Autos hinein. Ein subkutaner 48-Wahlkampf hatte begonnen und das Ergebnis war entsprechend überraschend und großartig, die Wahlparty trotz des Schocks und der Trauer um Freunde, eben auch für sie, wild und ausgelassen.

Diyarbakir Mitte Oktober 2015 – Innenstadt im Ausnahmezustand

Unter der Überschrift: „Terror und Kriminalisierung der Opposition destabilisieren die Türkei und die EU schaut weg“ hatte Martina vor zwei Wochen berichtet und fasste die unmittelbaren Reiseerfahrungen zusammen. Die Reise war lange geplant, aber sie begann einen Tag nach den entsetzlichen Anschlägen in Ankara. Martina fuhr am Sonntag, den 11. Oktober gemeinsam mit ihrer Fraktionskollegin Marie-Christine Vergiat, nach Diyarbakır. Sie erlebte eine Stadt im Ausnahmezustand. Während sie am Montag bei der Trauerfeier von Abdullah Erol, einem Kandidaten der HDP, die Kondolenzen der LINKEN und der GUE/NGL-Fraktion überbrachte, flog das türkische Militär mehrfach im Tiefflug über die Trauernden. Die Innenstadt Diyarbakırs war seit mehreren Tagen abgeriegelt. Die Bevölkerung musste mit anhören, wie in Sur, dem Altstadtbezirk tagelang geschossen wurde und niemand wusste genau, was eigentlich in den sechs abgeriegelten Bezirken passiert. Unsere Begleiterinnen mussten sich damals oft gegen sieben Abends verabschieden, um in ihre eigenen Stadtviertel und Wohnungen zu gelangen, da die abendlichen Ausgangsperren ihnen sonst keinen Zugang erlaubt hätten.

Vertreter der Human Rights Association (IHD), die wir auch am 2. November besucht haben, berichteten damals, die Abriegelungen und Ausgangssperren, die Verhaftungen von noch immer 28 Bürgermeistern, vornehmlich Mitglieder der HDP, galt insbesondere Kommunen, die zur Selbstverwaltung übergehen wollten.

Die EU schweigt, die Kommission hielt kritische Berichte zur Türkei vor den Wahlen zurück

Man könnte durchaus sagen: The same procedure as every election. Auch im Juni wurde wegen der Türkeiwahlen ein kritischer Bericht, die die Angriffe auf die Medien- und Meinungsfreiheit, die Verfolgung der Opposition und vieles mehr kritisierte, zurückgehalten und erst im Juli in Straßburg angestimmt.

Und auch diesmal, im Oktober schweigt die EU vor den Wahlen in der Türkei zu den Überfällen auf liberale Zeitungen, zu den Verhaftungen von Bürgermeistern, den Ausfällen der Regierung bei der Bearbeitungen der sich ausbreitenden Gewalt und Destabilisierung gegenüber linken Kräften.

„Ob beim Democratic Society Congress (DTK), beim Free Woman Congress (KJA) oder bei der Bürgermeisterin Kisanak, überall war das Entsetzen über den Terror im zivilen Leben, die Trauer über die Toten, die Sorge um die nächsten Tage spürbar. ‚Schaffen Sie Öffentlichkeit in Europa für das, was hier passiert‘, so forderten die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner Martina Michels mehrfach auf. „Mit Erdoğan kann man keine Deals in der Flüchtlingsfrage machen. Ja, es tut uns weh, wenn ihm kondoliert wird, obwohl wir doch die sind, die es betrifft.“, sagten uns Kandidaten der HDP, die jede Woche die Wohnung wechseln, um sich persönlich zu schützen. Am Dienstag, den 13. Oktober besuchte Martina Michels damals das Fidanlik Camp, eine halbe Autostunde von Diyarbakır. „Hier kommen so viele vorbei, aber es tut sich nichts. Sieben Jahre haben wir diesen Flüchtlingsstatus. Die Jungen gehen den riskanten Weg übers Meer. Wir haben nichts, wohin wir zurück können und eine Zukunft ist das auch nicht.“ So das häufig wiederholte Fazit. Was bleibt, ist bei den Menschen im Flüchtlingscamp die Aussichtslosigkeit und für uns die Gewissheit, dass die EU den zwei Millionen Flüchtlingen in der Türkei nicht Abschiebung und Abschottung bieten sollte, sondern sichere Fluchtwege, Schutz und die Bekämpfung der Fluchtursachen.

Während im Juni noch alle Weichen auf einen Neuanlauf des Friedensprozesses, eine politische Offenheit für eine demokratische Opposition standen, trotz der Anschläge in Diyarbakir, hatte sich die Lage nach den Angriff auf die Jugendlichen in Suruç, die die Nachbarn im syrischen Rojava unterstützen wollten, völlig verändert. Nach den Anschlägen von Ankara, war an Wahlkampf nicht mehr zu denken.

Der Parteivorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, sagte es deutlich, indem er betonte, wir hatten Leben zu schützen statt Wahlkampf zu veranstalten.

Wahlbeobachtung, die Zweite  – der erste November in Diyarbakir

Die GUE/NGL-Fraktion reiste mit vier Abgeordneten nach Diyarbakır und teilte sich am Wahltag. Die eine Gruppe, Marie-Christine Vergiat fuhr auf die Dörfer, Martina Michels ging zusammen mit ihrem baskischen Kollegen, José Juaristi in die inzwischen entsperrte Innenstadt Diyarbakırs und konnte auf diese Weise neben der unmittelbaren Wahlbeobachtung etwas vom Ausmaß der Auseinandersetzung erahnen, die während der Zeit der Abriegelung stattgefunden hatten.

Der Tag begann mit eine kurzen Besprechung gemeinsam mit Wahlbeobachtern aus Großbritannien, in der schon geschildert wurde, was in der Innenstadt Diyarbakırs, in Sur los ist: ein hohes Sicherheitsaufgebot, Spezialkräfte der Polizei, postierten sich vor den Wahllokalen und wie wir wenige Minuten später dann sehen konnten, auch innerhalb von Schulhöfen, in den die Wahllokale waren. Dies ist rechtlich klar untersagt, so dass der erste Einsatz darin bestand, die bedrohliche „Kulisse“ aus den Orten der Wahl zu verbannen. Damit hatte Martina schon Erfahrungen im Juni gesammelt. Die Wahlbeobachterausweise blieben zu diesem Zweck besser in der Tasche. Dafür war der Hinweis auf den Ausweis als EU-Parlamentarierin Goldstaub. Er erwies sich in jedem Fall als Verhandlungsschutz und -mandatszertifikat mit Wirkung, während wir zugleich im Laufe des Tages auch von Verhaftungen von Wahlbeobachterteams erfuhren.

Zwei Panzer mit maskierten Polizisten standen mitten auf dem Schulhof. Nicht nur für unsere Erfahrungen mit Wahltagen war dieses Aufgebot furchteinflössend. Auch viele aus der Bevölkerung versetzte eine derartige Manifestation in Furcht, manche kehrten um. Wenn man unter solchen Druck das Recht zu Wählen ausüben will, so ist das mit Mut und Hoffnung verbunden, dass irgendwann wieder demokratische Verhältnisse einziehen. Wir trafen auf diesem Schulhof dann auch mit Journalistinnen vom Guardian und der dpa zusammen  und gingen auch als etwas größere Gruppe weiter. Die wohl erfolgreichste Aktion hatten wir gleich zu Beginn zu verzeichnen. Die Panzer fuhren, nachdem wir von Wählerinnen und Wählern gebeten wurden, einfach tapfer im Hof stehen zu bleiben, uns nicht wegjagen zu lassen, keine Fotos rauszurücken, nach einer halben Stunde vom Hof. Zwar blieben sie dann für den rest des Tages vor der Schule stehen, was ich nicht viel freundlicher aussah, aber der Wahlort wurde nur von von freiwilligen Polizisten mit sichtbaren Westen besucht, zurückhaltend und außerhalb der Klassenräume mit den Wahlurnen.

Mit freien Wahlen hat dieses Aufgebot jedenfalls wenig gemein, auch wenn der Sicherheitszustand der Altstand durchaus als gefährlich zu bezeichnen ist.

Nach diesem Erlebnis wurden wir angesichts des nächsten Panzers vor einer Schule durchaus mutiger und drehten auf Wunsch unseres Baskischen Kollegen ein kleines Video vor dem nächsten Panzer. Er erläuterte seinen Wählerinnen und Wählern, was er hier tut und erlebt und es dauerte keine fünf Minuten, dass sich die Polizisten in Bewegung setzen und auf uns zukamen, während wir auf dem Schulhof zurecht Zuflucht suchten, um die folgende Verhandlungssituation auf halbwegs gesichertem Terrain zu führen. Sofort wurde uns erläutert, dass die Spezialeinheit hier zur Sicherheit aller stünde und keine Fotos und Videos machen dürften und das Material herausgeben sollten. Wir zeigten unsere Ausweise, erläuterten, dass wir durchaus fotografieren dürfen, um die Wahlbeobachtung zu dokumentieren und Martina setze noch ein Argument drauf und sagte deutlich: „Auch wir tragen hier zur Sicherheit bei, was sei denn da nun das Problem, so unterschiedlich sind unsere Ziele doch gar nicht.“Auch erneuerten wir den Hinweis, dass sie sich nicht auf dem Schulhof zu postieren haben. Im Sprachengewirr erläuterte unsere Dolmetscherin nochmals unsere Herkunft und wir zogen ungehindert weiter, um in den Wahllokalen dieser Schule uns vorzustellen. Dies kam generell sehr gut an, viele freuten sich, dass Wahlbeobachter da sind, sagten es verläuft alles friedlich und störungsfrei innerhalb der unmittelbaren Wahllokale.

Manchmal löst nur Heiterkeit die Spannung. Aus einem Wahllokal kommend, sagt ein junger Polizist, von den Freiwilligen, der Englisch spricht , zu Martina: „Ich bin Polizist.“, „Ja, das sehe ich. Aber bist Du ein guter oder ein schlechter Polizist?“, sagt sie lachend. Die meisten grinsen schon um uns herum und der Polizist setzte eins drauf und sagte: „Ich bin ein guter Polizist, aber hier mein Kollege, das ist der schlechte Polizist.“ Fünf Minuten vor der Schließung der Wahllokale kann das die Spannung schon mal seelisch entschärfen.

Wir liefen mit einer kleinen Pause bis zur Schließung der Wahllokale die Schulen in Sur ab, sahen das zerstörte Gemeindeparlament, die Löcher der Scharfschützen von den Auseinandersetzungen von Anfang Oktober, eine beschossene Moschee, viele Einschüsse an Häuserwänden. Wie sollen die Menschen denen, die das Stadtviertel schon 20 Tage zuvor staatlicherseits mit terrorisierten, abnehmen, dass sie zur Sicherheit am Wahltag aufgefahren sind. Wir erinnern uns: Es wurde abgesperrt, weil Viertel zur Selbstverwaltung übergehen wollten.

Wahlabend und der Tag danach – 2. November 2015

Die Hoffnung von Juni ist verschwunden, zertrampelt, weggesprengt. Mit mehreren Journalistinnen und Journalisten verfolgen wir den Wahlabend im Fernsehen. Keine Wahlparty, auf der der Raki in Strömen fließt, ab und an ein hupendes Auto, irgendwann wieder Helikopter, vorm Parteibüro der örtlichen HDP gehen die Sicherheitskräfte schon wieder mit Tränengas vor.

Seltsam schnell wurde das landesweite Wahlergebnis ausgezählt. Es gab mitten in den Übertragungen einen Stopp des Auszählverfahrens von dem die staatlichen Sender partizipierten, so hieß es im HDP-Umfeld. Tags darauf wird die HDP Neuauszählungen in mehreren Regionen fordern, denn sie haben bei der Überprüfung der Angaben der ausgezählten Wahlurnen, die die Parteien auch übermittelt bekommen, festgestellt, dass in Anada 4968, in Mersin 98, in Tunceli 198, in Erzurum 4000 und in Ardahan 2226 Stimmen für die HDP jeweils unterschlagen wurden.

Martina kommentierte in einer Pressemeldung die Wahlergebnisse. Sie führte am 2.November auswertende Gespräche mit einer Abgeordneten der HDP, Nursul Aydogan, hatte erneut ein Meeting mit dem Democratic Society Congress (DTK), mit der Mesopotamia Lawyers Association / MHD und abschließend mit der Democratic Youth Initiative / Dem-Genc. Enttäuschung war überall zu spüren, weniger über das Wahlergebnis der HDP, sie erreichte immerhin erneut den Sprung über die undemokratische 10 %-Hürde, sondern über die Situation insgesamt, in der der Friedensprozess mit der kurdischen Bevölkerung gestoppt ist, ein Leben in Sicherheit und Freiheit nicht greifbar ist. Die erneuten Verhaftungen von Journalisten nach dem Wahltag lassen nicht Gutes erahnen. Auch die Ankündigung, nun die Verfassung zu reformieren, obwohl die AKP keine verfassunggebende Mehrheit errang, deuten darauf hin, dass Erdogan alles unternimmt, um seine präsidiale Macht auszubauen.

Beim letzten Gespräch mit dem HDP-nahen Jugendverband wurde gesagt: „Wir kämpfen weiter, aber wir kämpfen mit Würde.“ Rezepte gegen die Kriminalisierung der Opposition sind nicht einfach, aber der einzige Weg, die Verankerung in der Bevölkerung wieder zu stärken, Ängste vor Terror abzubauen und für demokratische Lösungen zu streiten, die in Diyarbakir derzeit durchaus ganz einfach heißen: „Wir wollen endlich friedlich leben.“ Dazu ist auch eine Neubestimmung des Verhältnisses der HDP zu den militantesten Kräften der verbotenen PKK nötig. Für eine Aufhebung der Einstufung der PKK als Terrororganisation hatten sich viele linke Kräfte europaweit schon nach der Befreiung Kobanes stark gemacht. Doch die derzeitige Situation erleichtert insgesamt nicht die Rückkehr zum dringend nötigen Friedensprozeß. Doch daran festzuhalten, ist politisch die einzige Chance, die Lage wieder zu verbessern.