Desaster in mehreren Akten: Erdogan in Deutschland

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Medienfreiheit, Muslime in Europa, Flüchtlingspolitik der EU – der Staatsbesuch hat viele Fragen nicht gestellt

Martina Michels und Can Dündar, 8.12.2017 | Foto: Uwe Schwarz

Medienfreiheit: Can Dündars Auslieferung verhindern

Schon vor dem Staatsbesuch Erdogans in der Türkei, verlangte die Türkische Regierung die Auslieferung von 69 Bürgerinnen und Bürgern. Darunter befindet sich der ehemalige Chefredakteur der Cumhuriyet, Can Dündar, der als investigativer Journalist Waffengeschäfte der Türkischen Regierung nach Syrien nachwies und dafür verhaftet wurde. Inzwischen lebt er im Exil in Deutschland und betreibt mit dem Portal und der gedruckten Ausgabe von ÖZGÜRÜZ mediale Exil-Plattformen für unabhängigen Journalismus in und über die Türkei hinaus. Martina Michels forderte von der Bundesregierung dem Schutz der Medienfreieheit Rechnung zu tragen und der Auslieferung keine Folge zu leisten.

Merkel rollt Erdogan den Teppich aus …

Kurz vor der gemeinsamen Pressekonferenz von Merkel und Erdogan am Freitag, den 28.9.2018, hatte der akkreditierte Journalist seine Teilnahme abgesagt, nachdem Erdogan damit gedroht hatte, die Pressekonferenz zu boykottieren. Can Dündar erläuterte seine Entscheidung nochmals im Exilmedium Özgürüz (upload von DIE WELT).

Die Pressekonferenz von Merkel und Erdogan selbst war eine Farce für Menschenrechte und Medienfreiheit. Wenn Merkel auch Differenzen zur Auffassung der Türkischen Regierungen bei Menschenrechten einräumte und auch speziell im Falle Can Dündar, so hatte Erdogan hernach und unwidersprochen Gelegenheit, den Journalisten als Agenten zu beschimpfen, der in Haft gehöre.

Auch in anderer Hinsicht war diese Pressekonferenz eine bittere Stunde für die Medienfreiheit, nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland. Der akkreditierte Bildjournalist Adil Yigit, wurde für sein T-Shirt-Statement auf der Pressekonferenz, mit dem er Medienfreiheit forderte aus dem Raum geführt. Besser konnte die unerträgliche Kriminalisierung von Can Dündar durch Erdogan nicht kommentiert werden. Nur im Bundespresseamt hat man offenbar das Grundgesetz noch nicht verinnerlicht, twittere doch der Regierungssprecher Seibert nach diesem Vorfall: „Wir halten es bei Pressekonferenzen im Kanzleramt wie der Deutsche Bundestag: keine Demonstrationen oder Kundgebungen politischer Anliegen. Das gilt völlig unabhängig davon, ob es sich um ein berechtigtes Anliegen handelt oder nicht.“ Entsprechender Unmut und vielfache Kritiken an diesem Statement folgten.

Zeitenwende: Was bedeutet die Eröffnung der Ditib-Moschee in Köln durch Erdogan? 

Für das Zusammenleben in Deutschland wird der Staatsbesuch Erdogans auch innerhalb Deutschland und Europa tiefe Risse hinterlassen. Mit der gestrigen Eröffnung der Ditib-Moschee in Köln wurde eine riesige Chance vertan, dass muslimische Verbände sich hinter einen Islam stellen, der Deutschland und Europa bereichert und Menschen stärkt. Der einstige prominente Ditib- Funktionär Murat Kayman formulierte in einem mehrteiligen Twitter-Kommentar am heutigen Sonntag:

„Erkenntnis des gestrigen Tages: Eine Zeitenwende ist sichtbar geworden. Muslime in Deutschland (egal ob sie sich auch als deutsche Muslime verstehen oder nicht) haben für ihr Leben in Deutschland von den Verbänden nichts mehr zu erwarten… Dort haben sich alle für das Selbstverständnis einer nationalen Wagenburg, für die selbstisolierende, rückwärtsgewandte „Diasporapolitik“ der türkischen Regierung entschieden. Ihr Anspruch Religionsgemeinschaft zu sein, ist seit gestern restlos verwirkt… Sie sind nun Heimatvertriebenenverbände, die ihre Regieanweisungen aus der alten Heimat erhalten. Dafür haben sie sich entschieden und das ist auch legitim. Nur mit unserem Leben und unseren Problemen hier in Deutschland haben sie nichts mehr zu tun… Wir müssen uns jetzt um uns selbst kümmern. Und das meine ich absolut positiv und ganz neu motiviert. Der gestrige Tag war damit letztlich eine Befreiung… Ich bin voller Vorfreude und Neugier darauf, was die vielen jungen Muslime, die sich dieser Gesellschaft positiv zuwenden, aus eigenem Antrieb heraus schaffen und gestalten können. Es warten spannende Zeiten auf uns. Und ich freue mich, sie mitzuerleben!“   

Schon zuvor hatte der frühere Oberbürgermeister Kölns, Fritz Schramma, seine Enttäuschung über die Art der Eröffnung der Moschee deutlich artikuliert und noch einmal daran erinnert, dass alle Planungen und Zielstellungen, die mit dem Moscheebau verbunden waren, für den sich Fritz Schramma (CDU) sehr eingesetzt hatte, mit dieser exklusiven Eröffnungsfeier obsolet geworden sind. Hier ist Fritz Schramma noch einmal im Interview.

Merkel, Erdogan und der EU-Türkei-Deal – ein Desaster für die Flüchtlinge

Martina Michels im Flüchtlingscamp unweit Diyarbakirs, Oktober 2015 | Foto: Konstanze Kriese

Merkel, die nun den Teppich ausrollte und sich moderat zu des Präsidenten Interesse, die stockende türkische Wirtschaft anzukurbeln, äußerte, gilt auch als Baumeisterin des EU-Türkei-Deals innerhalb des Europäischen Rates, der im März 2016 durch eine Ratsmitteilung, und damit unter Ausschluss des Europaparlaments, auf den Weg gebracht wurde. Der Deal dient der Flüchtlingsabwehr und oft bekommt die Türkei großes Lob für die bis zu vier Millionen beherbergten Flüchtenden, zumeist aus Syrien. Abgesehen davon, dass auch die Einreise aus Syrien nicht einfacher geworden ist, ist die Kontrolle der an die 6 Mrd. Euro geplanten und zum Teil schon verausgabten EU-Gelder für die Flüchtlinge offenbar nicht hinreichend, um Ausbeutung, Kinderarbeit und unfassbare Existenzbedingungen für die Flüchtenden zu verhindert. Monitor fragte nach und zeigte zurecht, dass diese Abwehr der Flüchtlinge durch die EU keine Lösung ist, um Migration, insbesondere aus Kriegsgebieten, zu bewältigen. Unsere Fraktion hat, wie andere auch, diesen Deal immer abgelehnt. Er ist nicht nur sichtlich moralisch am Ende (dies schon bevor er auf den Weg gebracht wurde). Seine jetzigen Realitäten verlangen erneut nach dringenden humanen Lösungen für Menschen auf der Flucht, zu der die EU verpflichtet ist.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.