Martinas Woche 9 – 2024

Magdeburg diskutiert EU-Politik mit Martina Michels, 2.3.2024 | Foto: Jörg Bochmann

Straßburg – Brüssel – Berlin

EU-Lieferkettengesetz – Strategische Investitionen (STEP) – Verteidigungspolitik – Erweiterung – Gaza – Zukunft Europas

Martina Michels, Konstanze Kriese

Alle Augen der interessierten Europapolitik schauten zuerst nach Straßburg, wo das Europaparlament seine drittletzte Tagung vor dem Ende der Legislatur abhielt. Nicht weniger als sicherheitspolitische Debatten, EU-Erweiterungspolitik und die Europäische Industriepolitik standen u. a. im Mittelpunkt der Tagung. Doch mit der ablehnenden Entscheidung des komplett ausgehandelten EU-Lieferkettengesetzes im Europäischen Rat, verursacht durch den deutschen Finanzminister Lindner, schaute das politische Europa schon wieder auf die Kapriolen des Europäischen Rates, in dem sich die Mitgliedstaaten immer schwerer auf eine gemeinsame europäische Politik einigen können, den nötigen ökologischen, emigrationspolitischen, demokratischen und sozialen Herausforderungen nur annähern gewachsen sind. Wenn dann Macron sich überdies zum Kriegsminister der EU aufschwingt und gefährliche Feldherrenvorschläge für die ukrainische Verteidigungsstrategie vorschlägt, wünschte man Frankreich wenigsten die deutsche Erfahrung einer Parlamentsverteidigungsarmee, in der es noch Debatten über den Sinn und Unsinn von Militäroperationen gibt. Und nach den Enthüllungen aus der obersten Militärebene der Bundeswehr über den Einsatz von Taurus-Marschflugkörpern steht nun nicht nur die Frage im Raum, warum höchste Offiziere keine abhörsichere Videokonferenz hinbekommen, sondern auch die Debatte selbst, die in der ersten Veröffentlichung wie ein Streich der künstlichen Intelligenz aus dem Hause „ChatGPT“ wirkte. Das gehört von den Parlamentarier*innen im Bundestag sofort untersucht, versehen mit strengen Fragen an die Bundesregierung. Denn am Ende haben derartige Planspiele längst mehr als eine europäische Dimension.

Alle diese Fragen standen auch auf zwei Veranstaltungen zur Debatte, die einmal Konstanze Kriese aus unserem Team und am Samstag Martina Michels in Magdeburg besuchten und dort jeweils zur aktuellen Europapolitik befragt wurden und Auskunft gaben.

Grafik: EP

Plenartagung in Straßburg I: Die Geschichte vom Tiger und dem Bettvorleger – Plattform „Strategische Technologien für Europa“’ (STEP)

Europaparlament in Straßburg | Foto: Jörg Bochmann

Dienstag um 9 Uhr startete die Debatte u. a. um die „Plattform für strategische Technologien für Europa“. Sie sollte einer Europäischen Industriepolitik und einer damit verbundenen Investitionspolitik auf die Sprünge helfen. Doch: Es fehlen die Mittel! Und das ist am Ende auch eine politische Entscheidung gegen eine Europäische Industriepolitik, die irgendwie als sinnvolle Antwort auf das US-amerikanische Investitionspaket (IRA) verstanden werden kann. Ursprünglich träumte die EU-Kommission noch von einem europäischen Souveränitätsfonds, doch einzelne Mitgliedstaaten scherten aus einem solchen Projekt aus. Die Plattform für Strategische Technologien in Europa – STEP – sollte diese Lücke kompensieren, doch die geplanten 13 Milliarden schrumpften nun auf kümmerliche 1,5 Milliarden Euro.

„Europa verpasst die Chance, sich industriepolitisch neu aufzustellen. Von den zehn Milliarden Euro frisches Geld für STEP, die damals schon zu wenig waren, sind noch lächerliche 1,5 Milliarden übrig – und die fließen ausgerechnet in den Verteidigungsfonds. Wir wollten einen EU-Souveränitätsfonds für Industriepolitik, bekommen haben wir mehr Aufrüstung und eine Umwidmung bestehender Fonds – sieht so die europäische Antwort auf das US-amerikanische Subventionspaket IRA aus? Die gesamte Geschichte ist blamabel!“,

fasste Cornelia Ernst als Mitglied im Industrieausschuss den Werdegang und die Abstimmung am Dienstag zusammen.

Martina Michels in der Delegation EU-Israel, 18.10.2023

Plenartagung in Straßburg II: Krieg im Gaza-Streifen  

Besucher*innengruppe in Straßburg – Atrium im Parlament | Foto: Jörg Bochmann

Martina Michels, die auch Mitglied in der Israel-Delegation ist, fasst im Vorfeld der Debatte am Dienstagnachmittag zusammen:

„Dieser Krieg muss beendet werden. Die Entwicklungen im Gazastreifen und eine mögliche Bodenoffensive in Rafah verschlimmern die humanitäre Katastrophe weiter und helfen keiner der seit mehr als vier Monaten verschleppten Geiseln. Eine sofortige und wirksame Umsetzung der vom Internationalen Gerichtshof angeordneten vorläufigen Maßnahmen zu Schutz und Versorgung der Menschen ist dringend. Israel ist dabei in der Verantwortung, aber auch wir.“

Entsprechend kritisierte Martina die Einstellung von Zahlungen für humanitäre Hilfe durch einige EU-Mitgliedstaaten als unverantwortlich und unmenschlich.

„Nichtsdestotrotz müssen die schwerwiegenden Anschuldigungen gegen UNRWA-Beschäftigte präzise aufgeklärt, die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen und die internen Kontrollen entsprechend gestärkt werden.“

Plenartagung in Straßburg III: Aufrüstung –​​​​​​​ Nein, Danke.

Auf dem Wege nach Straßburg, 5.2.2024, in Offenburg | Foto: Konstanze Kriese

Am Mittwochvormittag ging es umfassend um die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Diskutiert wurde der Jahresbericht und in dessen Zentrum stand natürlich einmal mehr der Krieg in der Ukraine. Özlem Demirel kritisiert zu Recht:

„Immer schneller, immer größer, immer mehr Waffen, Aufrüstung und Militär scheint die einzige Devise, nicht nur bei der Ampel, der EU-Kommission und dem EU-Rat zu sein, sondern auch bei der Mehrheit der EU-Parlamentarier*innen. Zumindest wird das aus dem aktuellen Bericht zur Umsetzung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) deutlich.“

„Dabei sind ein Rüstungswettlauf und die Militarisierung nicht die richtigen Antworten im Interesse der Bevölkerung der EU, sondern ein zivilisatorischer Rückfall aus dem lediglich eine lange Eiszeit internationaler Konfrontation folgt, der die Lösung globaler Probleme blockiert. Es wird lediglich eine Scheinsicherheit geschaffen, die im Kern nur zu mehr Unsicherheit und wachsender Kriegsgefahr führt.“

Die EU ist auf dem Wege, alle zivilen Elemente eines erweiterten Sicherheitsbegriffs zu verspielen. Wir gewinnen keine Sicherheit mit Abschreckungsspiralen. Ohne Friedenspläne, ökologische Pfade und gerechten Handel, den diese Welt gemeinsam geht, kommen wir nicht weiter. Ja, es ist sichtbar eine gefährliche Aufrüstungsphase weltweit entstanden. Russland und China sind da mittenmang und ziehen mit der NATO mit. Die Rolle der EU wäre es, einen zivil orientierten Sicherheitsbegriff wieder stark zu machen. Dafür steht ihre eigene Geschichte. Vielleicht wäre es an der Zeit, international wieder Konzepte der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit in der Verteidigungspolitik hervorzuholen, damit internationale Abrüstungsverträge wieder eine Chance bekommen, statt nun auch noch Atomwaffen wieder salonfähig machen zu wollen.

Schon im Vorfeld der Abstimmung kommentierte Özlem Demirel:

„Dieser Bericht, inklusive der EU-Rüstungsstrategie und eines eigenen Rüstungskommissars, ist eine Steilvorlage für Frau von der Leyens zweite Amtszeit. Mit der geforderten Operationalisierung von Artikel 42 Absatz 7 EUV, wird die EU zu einem De-facto-Militärbündnis gemacht. Neben dem Ruf nach einem Kommissar für die Verteidigungsunion wird erneut nach der schnellen Einsatzfähigkeit mit mindestens 5.000 ständigen Truppen für EU-Militäreinsätze gerufen. Das Einstimmigkeitsprinzip in der GSVP-Entscheidungsfindung soll abgeschafft werden, was vor allem die Macht der großen Mitgliedstaaten weiter stärkt. Zum Thema feministischer Außenpolitik erschöpft sich das Verständnis in der vermehrten Teilnahme von Frauen an militärischen Missionen – das ist absurd und falsch! Wir lehnen diesen Bericht ab und haben eine Minderheitenposition und Änderungsanträge eingereicht.“

Plenartagung in Straßburg IV: Erweiterung und Vertiefung der EU-Integration statt Geopolitik

Europasignet am Plenarsaal | Foto: Komstanze Kriese

Helmut Scholz kommentierte schon für der Debatte im Plenum, dass der EU-Beitritt eines Landes nicht zum geopolitischen Spielball verkommen darf. Es ist richtig, dass im Dezember 2023 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau vereinbart wurden und Georgien den Kandidatenstatus erhalten hat. Doch, so stimmt Martina hier den Einschätzungen von Helmut Scholz als EU-Regionalpolitikerin besonders zu, müssen regionalpolitische Elemente, das EU-Budget und die Agrarpolitik an die Erweiterungspolitik angepasst werden.

„… leider bleiben im Bericht die Herausarbeitung der sozialen Dimension, Aspekte der Finanzierung und künftigen Ausgestaltung des EU-Budgets, mit den neu zu setzenden Schwerpunkten in der Gemeinsamen Agrar-, der Kohäsionspolitik und anderen Politikfeldern, unterbelichtet.“ ,

so Helmut Scholz und man kann davon ausgehen, dass die Erweiterungspolitik in der neuen Legislatur nicht nur das Parlament stärker als je zuvor beschäftigen wird.

Martina zu Gast Magdeburg: Mehr Solidarität wagen!

Martina Michels in Magdeburg, 2.3.2024 | Foto: Jörg Bochmann

Am Samstag war Martina zu Gast auf der 3. Tagung des Stadtparteitages der Linken in Magdeburg im Kulturzentrum Moritzhof. Die beiden Stadtvorsitzenden der Linken, Nicole Anger und Vera Baryshnikov, hatten viel Zeit eingeplant, um Europapolitik in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen und zu erfahren, was die linken Europa-Abgeordneten in Brüssel in den vergangenen fünf Jahren erreicht haben. Martina teilt seit langem ihr zweites Wahlkreisbüro neben dem Berliner Büro mit Nicole Anger in Sachsen-Anhalt. Sie beantwortete eine ganze Liste an Fragen zu aktuellen Themen ihrer Arbeit im Europaparlament, aber auch hinsichtlich der Situation in Europa und Deutschland. Die Liste des Erreichten durch linke Parlamentsarbeit ist lang: Im Regionalausschuss war Martina dabei, als das europaweite Frühwarnsystems nach der Flutkatastrophe u. a. im Ahrtal stabilisiert wurde. Bei der Mindestlohn-Richtlinie hat die LINKE aktiv mitgearbeitet und schon heute erfüllt Deutschlands Mindestlohn nicht die erforderliche Höhe, die sich aus dem europäischen Vergleich ergibt, so dass wir Druck machen müssen, dass hier endlich nachgesteuert wird. In der EU wurden auch die Lebensbedingungen der Plattformarbeiter*innen zum Thema, die weitgehend ohne soziale Rechte und Haftungsbefreiungen arbeiten. Die Einigungen wurde jedoch gerade im Europäischen Rat, unter anderem durch Deutschland, geblockt. Einmal mehr ist diese Bundesregierung, besonders durch den Finanzminister Lindner, gegen soziale Standards, denn zuvor hat sie beim EU-Lieferketten-Gesetz ähnlich agiert. Kinderarbeit und Umweltsünden sind „dem deutschen Michel“ egal, wenn er seine Produkte nur schön billig produzieren kann. Das werden wir als LINKE nicht so stehen lassen und weiter für den Abschluss von Richtlinien und Gesetzen kämpfen, die wenigstens in die richtige Richtung gehen. Martina war mit Kolleginnen der Grünen und der Sozialdemokraten aktiv an der Wiederbelebung des europäischen Nachtzugverkehrs beteiligt und sie konnte ebenso berichten, dass es auf das Konto der linken Abgeordneten im Europaparlament ging, dass endlich die Beteiligung von Frontex an Pushbacks untersucht wird. Martina verwies dabei auf die Zusammenarbeit und Unterstützung vieler kleiner Initiativen, ob in der Arbeit mit Geflüchteten, im Kulturaustausch, in der Bildung aktiv, die mit ihrem Engagement fortwährende Aufmerksamkeit auf europäische Politik lenken und auch auf Möglichkeiten, mit linken Perspektiven Veränderungen einzuleiten. Aber auch die noch offenen Aufgaben kamen zutage, wie die abzulehnende Umwidmung von Fonds für Umwelt, Wirtschaft und Soziales für Aufrüstung, der unzureichende Widerstand gegen rechte Strömungen oder die unbedingt zu erweiternden Befugnisse und Möglichkeiten des Parlaments auf der Grundlage der Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft Europas. Als Mitglied in der Delegation des Europäischen Parlaments für die Beziehungen zu Israel stellte sie klar, dass aus ihrer Sicht das Existenzrecht Israels unantastbar ist, die Politik Netanyahus trotzdem scharf kritisiert werden muss, weil gleichzeitig für einen Waffenstillstand in Gaza und für eine tragfähige Friedenslösung mit dem Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung gekämpft werden muss, dies alles in der Hoffnung, dass die Geisel vom 7. Oktober 2023, die dieses Massaker überlebt haben, endlich freigelassen werden. Im Krieg Russlands gegen die Ukraine unterstrich sie das Verteidigungsrecht der Überfallenen, mahnte aber trotzdem eine tragfähige und beiden Seiten gerecht werdende Friedenslösung auf der Basis von Verhandlungen an, denn immer mehr Waffen sind dabei destruktiv und bringen immer mehr Opfer und Leid. Dabei muss Putin als das gesehen werden, was er ist: ein Autokrat mit imperialen Machtansprüchen.

Sehr freundlich wurde Martina verabschiedet, da sie nach dieser Legislatur nicht mehr antritt. Einer möglichen Nachfolgerin wünschte sie Bodenhaftung, Sinn für die kleinen und großen Möglichkeiten und schloss mit einem Plädoyer für mehr Solidarität, nicht nur zwischen den Völkern Europas sondern auch im Kleinen, besonders innerhalb der Linken.

Berlin: Erasmus+, Ukraine-Krieg, Migration

Podium am Heinrich-Hertz-Gymnasium, 1.3.2024 | Foto: Dank an Lukas Möhring

Freitagvormittag hatte das renommierte Heinrich-Hertz-Gymnasium in Berlin-Friedrichshain mit der Orientierung auf Naturwissenschaften zu einem von Schülerinnen und Schülern organisierten Mehrparteienforum eingeladen. Für uns hatte Konstanze Kriese im Podium Platz genommen. Perfekt vorbereitet, moderiert und begleitet von einem digital gesteuerten Frage-Ranking startete das Forum um 10 Uhr. Die direkte Erfahrung aus Brüssel lag eindeutig bei den Grünen und den Linken, da auch die engagierte Ausschussvorsitzende des Verbraucherschutzausschusses Anna Cavazzini (GRÜNE), begrüßt werden konnte, die auch die Arbeit von Helmut Scholz im Internationalen Ausschuss zu schätzen wusste, mit dem sie dort gemeinsam für das EU-Lieferkettengesetz gestritten hat, was nun vom Finanzminister Lindner in Brüssel ausgebremst wurde. Doch die Eingangsfragen richteten sich zunächst auf das Bildungsprogramm Erasmus+, wo wir als LINKE mit einem eindeutigen Vorteil starten konnten, denn Martina ist im Kulturausschuss aktiv und so konnten wir von den Fallstricken der Halbzeitbewertungen berichten oder der Dramatik, die durch die Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus gegen Ungarn entstanden ist. Denn dort sind inzwischen 18.000 Studentinnen und Studenten vom Erasmus-Programm ausgeschlossen worden. Da verdreht sich der Anspruch der Inklusivität ins Gegenteil und es ist durchaus zu überlegen, wie die Förderungen direkt bei den Begünstigten ankommen können. Auf diese Weise landeten wir schnell auch in einer Demokratie-Debatte und wie wir deren Erhalt besser sichern können. Zum Ukraine-Krieg waren sich im Podium alle ziemlich einig, dass der Krieg die Koordinaten der europäischen Sicherheitsstrategie komplett verändert hat. Nur erwartungsgemäß fielen die Antworten sehr unterschiedlich aus. Dass ein ökologisch intendierter Friedensplan, der den Sicherheitsbegriff eben nicht nur militärisch definiert, ausgerechnet von einer Linken vorgestellt wurde, hat dabei sicherlich einige überrascht. Bei dem Thema Migration konnten wir ebenso viel Konkretes aus der Arbeit berichten, die Kritik an dem gemeinsamen europäischen Asylsystem deutlich machen und darauf verweisen, dass die Rückkehr zu einer humanen Migrationspolitik für uns ganz oben auf der Agenda steht.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.