Martinas Woche 6 – 2024

Baustelle Europaparlament, Februar 2024 | Konstanze Kriese

Straßburg – Brüssel – Blockaden und Zustimmungen aus Deutschland für verfehlte EU-Politik

Kampf gegen Antisemitismus – EU-Haushalt bis 2027 – Deutsche Blockade des EU-Lieferkettengesetzes – Gemeinsame Europäische Asylpolitik (GEAS) – Europäische Schuldenbremse: Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts – Aserbaidschan hat gewählt

Martina Michels, Konstanze Kriese

„Neben“ dem Plenum in Straßburg schauten viele auf die „Brüsseler Politik“, auf Entscheidungen des Europäischen Rates, zum Haushalt, zum EU-Lieferkettengesetz und zur Einigung der Gemeinsamen Europäischen Asylpolitik (GEAS), die weitestgehend schon im Dezember auf der Tagesordnung standen, deren Einigungen aber verschoben wurden. Zu alledem verständigte sich auch das Europaparlament. Deshalb findet ihr diesmal in Martinas Woche sowohl Kommentare zu den Ratsentscheidungen als auch zu ausgewählten Plenardebatten und Entscheidungen. Martina fuhr nach der Plenarwoche gleich weiter nach Hamburg, wo die Fraktionsvorsitzendenkonferenz tagte, in der sich linke Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus Landtagen, die nun neue Bundestagsgruppe und die Europäische Delegation zu aktuellen politischen Vorhaben austauschen. Für Martina war blieb das Wochenende mit der Wahlwiederholung in Berlin bis in den späten Sonntagabend politisch brisant und spannend, wobei man bei einer Wahlbeteiligung von ca. 40 Prozent der Berliner Wiederholungswahl in einigen Bezirken kaum von Trends, die von der Bundestagswahl 2021 stark abweichen, sprechen kann. Trotzdem ist es erfreulich, dass die Linke einen Hauch zulegen konnte, trotz des Wermutstropfens, ihren vierten Abgeordneten aus Berlin, den engagierten Pascal Meiser dabei zu verlieren. Da wir schon bei Wahlen sind und uns da besonders die Entwicklung auch in Europas Nachbarstaaten interessieren, wollen wir kurz nachtragen, dass in Aserbaidschan gewählt wurde. Das Ergebnis wird niemanden verwundern. Ein Land, dass seine Opposition und insbesondere auch Journalist*innen gängelt und verfolgt, das von der EU hofiert wird, weil es Gas liefert und daher z. T. mit Samthandschuhen angefasst wird, wenn es Armenien militärisch angreift, wählt erneut einen Autokraten, wie er im Buche steht: Ilham Alijew, der alte, wird auch der neue Präsident.

Quelle: EP

Fortschritt sieht anders aus: Einigung zum EU-Haushalt bis 2027

In einem umfangreichen Bericht zu den Haushaltseinigungen im Rat in der vergangenen Woche, fassen Martina Michels und Nora Schüttpelz zusammen:

„Der Haushaltsdeal zeigt recht deutlich, wo die Prioritäten der EU-Mitgliedstaaten aktuell und wohl für die kommenden Jahre liegen: Bei geostrategischen Überlegungen, Grenzschutz und Migrationsbeschränkung und Industrieförderung zum Preis von ausgewogener und klimafreundlicher wirtschaftlicher und sozialer, inklusiver Entwicklung.“

Auf dem Wege nach Straßburg, 5.2.2024, in Offenburg | Foto: Konstanze Kriese

Wirklich frisches Geld für eine sozial-ökologische Transformation wird es kaum geben. Der Gesamtbetrag von 64,5 Mrd. EUR für verstärkte europäische Prioritäten, davon 31,5 Mrd. EUR Subventionen (finanziert aus 10,5 Mrd. Euro an Umschichtungen und 21 Milliarden Euro an neuen Geldern) und 33 Mrd. EUR Darlehen ist, allein pauschal im Vergleich zu den weiterhin umstrittenen Agrar-Subventionen von über 150 Mrd. Euro, kein Ausweis für eine wirkliche Prioritätensetzung, auch nicht gemeinsam mit STEP, was wir schon an anderer Stelle kritisiert haben. All dies ist auch keine ersthafte Antwort auf den US-amerikanischen Investitionspakt, den IRA (Inflation Reduction Act). Was einst als Antwort auf den Inflation Reduction Act der USA und als Europäischer Souveränitätsfonds angekündigt war, ist nun eine „Plattform für Strategische Investitionen“ und wird zusätzlich finanziert mit 1,5 Mrd. EUR Haushaltsmitteln für den Verteidigungsfonds.

Weiterführende Einschätzungen zu den Haushaltsansätzen für die Ukraine-Hilfen, für die kopflose und menschenrechtlich mehr als fragwürdige Migrationsabwehr und die Erweiterungspolitik auch im Westbalkan findet ihr ebenfalls im Bericht hier.

Europäische Schuldenbremse blockiert Investitionen und damit sozial-ökologische Transformation

Martin Schirdewan | Foto: ERIC VIDAL© EUROPEAN UNION 2023 – SOURCE : EP

Eng verknüpft mit den mauen Haushaltseinigungen im Detail ist die Wiederauflage des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Dazu kommentiert unser Fraktionsvorsitzender Martin Schirdewan unter der Überschrift „EU-Schuldenregeln: Die nächste Eurokrise ist vorprogrammiert!“:

„Die Neuauflage der EU-Schuldenregeln wird unsere Wirtschaft und unsere Zukunft mit voller Wucht an die Wand fahren. Die Reform der EU-Schuldenregeln sollte eigentlich verhindern, dass die EU-Länder wieder durch Kürzungspolitik wirtschaftlich und sozial kaputtgespart werden. Gerade in Zeiten, in denen öffentliche Investitionen bitter nötig sind und der Rechtsextremismus vor der Tür steht, hätte dies einen Wendepunkt markieren können. Doch das Ganze ist gründlich in die Hose gegangen. Die neuen Kürzungsregeln sind genauso sozial schädlich und willkürlich wie die alten. Mit dieser Politik kann Olaf Scholz gleich der AfD den Schlüssel zum Kanzleramt geben.“

Die Kritik an dieser Reform, die den Namen nicht verdient hat, könnt ihr hier in Gänze nachlesen.

Lindner schockt Europa bei der Blockade des EU-Lieferkettengesetzes 

Die Bundesregierung blockt erneut einen sozial-ökologischen Entwicklungspfad. Vorher fiel sie schon beim Verbrenner-Aus und vergleichbaren Entscheidung gegen sozial-ökologische Investitionen in der EU auf. Das Ergebnis ist tatsächlich, dass eine Ampel, in der es auch rot-grüne Politik geben sollte, von einer 4-Prozent-Partei in einer Weise durch die europäische Manege gezogen wird, deren Betrachter Deutschland langsam auf dem Irrweg erleben. Dabei ist die Begründung von Lindner und Buschmann, die Deutschland (neben Italien) zu einer Enthaltung beim EU-Lieferkettengesetz zwangen, komplett verlogen. Die Wirtschaftswoche zitiert deren Argumentation, die einige Wirtschaftsverbände, insbesondere der Vorstand der Stiftung Familienunternehmen, den FDP-Politikern offensichtlich 1:1 in den Mund legten:

Helmut Scholz im Plenum

„Die vorgesehene EU-Regelung würde zu einer ungeahnten Bürokratiewelle führen und insbesondere den Mittelstand überfordern“, sagt Rainer Kirchdörfer, Vorstand der Stiftung Familienunternehmen und Politik, im Gespräch mit der WirtschaftsWoche. „Es ist im Sinne der Familienunternehmen, dass die Minister Lindner und Buschmann das geplante EU-Lieferkettengesetz ablehnen. Wir können nicht ständig über die notwendige Entlastung der Wirtschaft sprechen und gleichzeitig damit weitermachen, die Unternehmen mit einer überbordenden Regulierung auszubremsen.“

Wirkliche real ist mit diesem Gesetz, das weltweit Kinder vor Ausbeutung und Beschäftigte vor Umweltbelastungen schützen soll, gar kein Mittelstand betroffen. Das Lieferkettengesetz gilt erst ab Unternehmen mit über 500 Mitarbeiter*innen. Das wird bei dieser Argumentation gern verschwiegen. Es geht um große Unternehmen mit riesigen Umsätzen und Gewinnen,  von denen man erwarten kann und muss, dass ihre Firmenphilosophie auf einem gerechten Welthandel basiert, statt Menschen und Umwelt gnadenlos auszubeuten, wenn die nicht vor unseren eigenen Augen geschieht. Helmut Scholz sagte dazu im Vorfeld der Abstimmung und Verschiebung im Rat:

„Solche EU-Gesetze wie die ‚Richtlinie über Sorgfaltspflichten in Lieferketten‘ können ein wichtiges Instrument sein beziehungsweise werden, um international tätige Unternehmen in die Pflicht zu nehmen, um die 17 Nachhaltigkeitsziele, die 2015 von den UNO-Mitgliedsstaaten aufgestellt wurden, umzusetzen. Im Kern geht es darum, Unternehmen entlang der gesamten Liefer- und Produktionskette dazu zu verpflichten, internationale Standards im Bereich der Umweltgesetzgebung, des internationalen Arbeitsrechts entlang aller ILO-Kernarbeitsnormen umzusetzen und damit ihre Produktion endlich umzugestalten, um inhumane und ausbeuterische Arbeitsbedingungen sowie umwelt- und klimaschädliche Praktiken zu verhindern.“  

Die Querschüsse der FDP in der EU haben Deutschland als verlässlichen Partner bei gemeinsamen europäischen und global entscheidenden Lösungen inzwischen längst massiv geschadet. Und längst nicht alle Unternehmen sind gegen das Lieferkettengesetz in der europäischen Fassung, das ohnehin im Koalitionsvertrag vereinbart war. Unternehmen erhoffen sich Gewinne vom Lieferkettengesetz:

„Befragungen ergaben …, dass die Mehrheit der Unternehmen sich durch die neue Richtlinie sogar Gewinne verspricht, wenn gleiche Standards für alle Akteure gelten, die auf dem europäischen Markt tätig sein wollen. Bei vielen Unternehmen sind die Vorteile der Berücksichtigung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten in ihren Lieferketten schon lange angekommen. Auch weitergehende Umwelt- und Sozialstandards sind spätestens seit dem Einsturz der Rana-Plaza-Fabrik in Bangladesch mit 1135 toten Arbeiterinnen und Arbeitern vor bald elf Jahren auf dem Radar der Einkäufer.“,

wird in der Frankfurter Rundschau kommentiert. Die FDP unterstützt nicht einfach alle Kapitalfraktionen, wie man also sieht, sondern die reaktionärsten, denen offenbar Kinderarbeit und Umweltauflagen und internationale Vereinbarungen für einen fairen Handel egal sind. Wenn sogar Aldi, IKEA, Tschibo und Unilever fortschrittlicher ticken als Lindner& Co., die alle dem Europäischen Lieferkettengesetz zustimmen, wenn Kanzler Scholz zu diesem Auftreten in der EU weiter schweigt, dann müssen wir uns über den Aufstieg rechter und pseudokonservativer Kreise nicht wundern, die German first in irgendeiner Weise immer in den Mittelpunkt ihrer Lösungsansätze stellen und dies dann auch noch „wirtschaftliche Vernunft“ nennen.

Skandalöses Verhandlungsergebnis beim Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS)

Am 8. Februar 2024 einigte sich der Europäische Rat auf die Reform der Asyl- und Migrationspolitik in der EU und besiegelte damit eines der schwärzesten Kapitel, in denen Europa sein menschenrechtliches Fundament politisch mit Füßen tritt.

Cornelia Ernst | © European Union 2023 – Source : EP Philippe Buissin

„Die Reform ist ein Schlag ins Gesicht für Schutzsuchende und alle, die seit Jahrzehnten für eine humane Asylpolitik in der EU kämpfen. Noch dazu wird die GEAS-Reform die Herausforderungen der Praxis nicht lösen. Im Gegenteil, sie legalisiert die jahrelangen Rechtsbrüche im EU-Asylrecht durch die Mitgliedstaaten. Damit wird die Rechtsstaatlichkeit in der EU schwer beschädigt.“

So urteilt unsere migrationspolitische Sprecherin Cornelia Ernst und geht ins Detail:

„Zukünftig werden Asylsuchende einschließlich Familien mit Kindern an der Grenze inhaftiert, und von dort aus, wenn möglich, direkt abgeschoben, auch in sogenannte ‚sichere Drittstaaten‘. Damit ist das individuelle Recht auf Asyl in der EU de facto tot. Eine echte Reform von Dublin ist gescheitert. Statt Menschen aufzunehmen, können die Mitgliedstaaten Abschottungs-Projekte in Drittstaaten finanzieren oder Mittel zur Grenzüberwachung, wie Stacheldraht, innerhalb der EU bereitstellen. Das nennt man dann auch noch ‚Solidarität‘ – das ist blanker Hohn und wird Ersteinreisestaaten wie Griechenland oder Italien nicht entlasten.“

Nichts von den Versprechungen der Bundesregierung, sich besonders für Familien und Kinder einzusetzen, ist geblieben, zumal dies auch den kopflosen Abwehransatz nicht beseitigt. Dieser Umgang mit Migration, insbesondere aus Gründen der Flucht vor Kriegen, politischer Verfolgung, Umweltschäden und ähnlicher existenzbedrohender Gründe, ist eine politische Ohnmachtserklärung und verschärft am Ende die internationalen Konfliktlagen, statt zu ihrer Minderung durch gerechten Handel, Unterstützung des globalen Südens und Achtung der politischen Verantwortung für Menschen auf der Flucht, die mehrheitlich ohnehin nicht nach Europa kommen, beizutragen und dafür tragfähige und innerhalb Europas wirklich solidarische Konzepte zu bringen.    

Kampf gegen Antisemitismus: Europaparlament ist bisher Teil des Problems

Martina Michels in der Plenardebatte, 7.2.2024 | Screenshot von der Parlaments-Homepage

Wenn man den Kolleginnen und Kollegen im Plenum den Spiegel vorhält, dann gibt es letztlich auch keinen Beifall im Europaparlament, sondern so etwas wie betretenes Schweigen. Martina Michels ließ es sich in der Debatte zum Kampf gegen den Antisemitismus nicht nehmen, dem Parlament einmal die eigenen Versäumnisse vor Augen zu halten, denn schon 2016 flog der Begriff des Antisemitismus aus einem Bericht zu Aufgaben in der Interkulturellen Kommunikation, weil – so befand es die Mehrheit im Kulturausschuss und im Plenum – ausreichend ist, von Rassismus zu sprechen, den wir alle bekämpfen müssen. Das ist nicht nur ungenau, sondern auch geschichtsvergessen. Und dies bewies das neu konstituierte Parlament gleich ein zweites Mal 2019, als es die ohnehin umstrittene Geschichtsresolution verabschiedete, die nicht nur von Totalitarismus und einer kompletten Gleichsetzung Nazideutschlands mit der Sowjetunion nur so triefte. Es war überdies auch dort nicht gelungen, in den passableren Abschnitten der Geschichtsresolution des Europaparlaments, im Artikel 7, den Antisemitismus zu Beginn den 2. Weltkrieges zu erwähnen.

Dort hieß es:

„Das Europaparlament ‚verurteilt, dass in einigen EU-Mitgliedstaaten Geschichtsrevisionismus betrieben wird und Personen verherrlicht werden, die mit den Nationalsozialisten kollaborierten; ist bestürzt über die zunehmende Akzeptanz radikaler Ideologien und die Rückkehr von Faschismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und anderen Formen von Intoleranz in der Europäischen Union, und ist besorgt darüber, dass es Berichten zufolge in einigen Mitgliedstaaten zu Absprachen von führenden Politikern, politischen Parteien und Strafverfolgungsbehörden mit radikalen, rassistischen und fremdenfeindlichen Bewegungen unterschiedlicher politischer Couleur gekommen sein soll; fordert die Mitgliedstaaten auf, derlei Handlungen aufs Schärfste zu verurteilen, da sie die Werte der EU – Frieden, Freiheit und Demokratie – aushöhlen;‘“, zitiert nach Konstanze Kriese: Überraschender Sündenfall?.

Europasignet am Plenarsaal | Foto: Komstanze Kriese

Die damalige Entsorgung der begrifflichen Klarheit im Kampf gegen den Antisemitismus deutlich auszusprechen, geschah ohne jeden mediale Beachtung. Jetzt fällt uns diese Nichtbeschäftigung historisch wie aktuell auf die Füße und Martina Michels machte mit ihrer Rede im Parlament deutlich, dass wir hier nicht immer „andere“ kritisieren müssen, sondern bei der eigenen Arbeit im Parlament beginnen können, um es in Zukunft besser zu machen.    

Verbraucherschutz halbherzig: Verordnung zu „Sofortüberweisungen in Euro“

Die Möglichkeit schneller grenzüberschreitender Geldsendungen sind sinnvoll, jedoch, so stellt Martin Schirdewan die Frage: Sind sie auch in gleicher Weise sicher? Einerseits wird damit unser Zahlungsverkehr unabhängiger von US-amerikanischen Zahlungsdienstleistern wie Paypal.

„Das große Problem dabei ist, dass die Aufsicht und die Regulierung bisher massiv hinterherhinken. Das birgt aber erhebliche Gefahren. Sofortüberweisungen etwa könnten die heikle Situation bei einem Ansturm auf wackelige Banken noch verschärfen. Auch dürfen wir nicht zulassen, dass neuartige Betrügerfirmen wie Wirecard Schule machen. Hier müssen die EU und die Bundesregierung endlich ihre Hausaufgaben machen und härter durchgreifen.“,

erläutert Schirdewan den Pferdefuß dieser Verordnung.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.