Martinas Woche 50 – 2023

Besucher*innengruppe in Straßburg - Atrium im Parlament | Foto: Jörg Bochmann

Plenum in Straßburg – Ratsgipfel in Brüssel

EU-Erweiterung – Ukraine – Kritische Rohstoffe – Geoblocking – Israel/Gaza – Mehrjähriger Finanzplan nach 2027 – Besuch in Straßburg

Martina Michels, Konstanze Kriese

In Straßburg fand das letzte Plenum in diesem Jahr statt und in Brüssel trafen sich die Regierungsvertreter*innen zu einem denkwürdigen Gipfel, bei dem der ungarische Regierungschef Viktor Orbán kurz vor die Tür geschickt wurde, damit man die Einstimmigkeit für die Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine hinbekommt. Doch diese, eher geopolitisch getroffenen Entscheidung lässt alle entscheidende Fragen der EU-(Ost)-Erweiterung offen und leistet auch keinerlei Beitrag für eine nichtmilitärisch konzipiertes Sicherheitspolitik der EU. 

Die Debatten in Straßburg bekommen naturgemäß nicht so viel Aufmerksamkeit wie die Regierungsentscheidungen im Europäischen Rat in Brüssel, doch die letzte Woche in Straßburg legte allerhand Hausaufgaben unter den Weihnachtsbaum. Von reichen Gaben kann hier eher nicht die Rede sein.

Über die Plenartagung hinaus konnte Martina auch letztmalig in diesem Jahr eine Besucher*innengruppe aus Berlin begrüßen, die sich sowohl über die Arbeit im Parlament informierten als auch das winterliche Elsass genossen.

Ukraine-Beitritt im Lichte einer abenteuerlichen Erweiterungspolitik

Europaparlament in Straßburg | Foto: Jörg Bochmann

Ja, es war ein Paukenschlag beim Ratsgipfel in Brüssel! Alle Scheinwerfer verließen am 15. Dezember 2023 fluchtartig das Straßburger Parlament und leuchteten entsprechend hell über die Brüsseler Entscheidungen der Regierungschefs, jetzt Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau aufzunehmen. Angesichts der Ängste mancher Mitgliedstaaten zu ausufernden Agrarhilfen für die Ukraine, angesichts des gesichtswahrenden Coups, dass Orbán bei der Abstimmung vor der Tür stand, angesichts der von BILD und Welt permanent ausgerufenen Angriffsplanungen Putins, die weit über die Ukraine hinausreichen sollen, ist eine sachliche Debatte zur EU-Erweiterungspolitik wirklich überfällig.
Helmut Scholz, unser Verhandlungsführer zum Parlamentsbericht zur EU-Erweiterung und den Vertragsreformen kommentierte diese Entscheidung:


„Ein Beitritt darf nicht zum geopolitischen Instrument verkommen. Sowohl in den jetzigen als auch in den neuen Mitgliedstaaten würde eine Erweiterung das alltägliche Leben der Menschen in vielen Lebensbereichen fundamental verändern. Die Zielsetzung der Verhandlungen muss sein, den Zugang zur öffentlichen Daseinsvorsorge für alle Bürgerinnen und Bürger zu erleichtern. Schon jetzt müssen wir darüber nachdenken, welche Rolle neue Mitgliedstaaten in einer nachhaltigen Transformation spielen können und wie wir die Kohäsionspolitik der Union auf die Unterstützung der neuen Regionen vorbereiten müssen. Ob Finanz-, Agrar- oder Kohäsionspolitik: Wirklich alle politischen Felder müssen jetzt vor dem Hintergrund der Erweiterung auf den Prüfstand. Und insbesondere die Westbalkanstaaten haben das Recht darauf, in diesen Prozess noch intensiver eingebunden zu werden.“

Und schon vor dieser Entscheidung mahnte Özlem Demirel, dass die geopolitische Engführung beim avisierten Ukraine-Beitritt uns kaum aus einem militärisch bestimmten Sicherheitskonzept der EU herausführen wird, ein Irrweg, der keine Gewinner haben wird, am wenigsten in der Ukraine. Statt dem gebeutelten Land eine Entschuldung in Aussicht zu stellen, werden allein die derzeit auf den Weg gebrachten Aufbauhilfen zukünftige Haushaltsentscheidungen der Ukraine für soziale Belange belasten. 

Regionalpolitik nach 2027

Am Dienstag billigten die Abgeordneten mit 548 Ja-Stimmen, 33 Nein-Stimmen und 18 Enthaltungen den Initiativbericht über die Notwendigkeit einer aktualisierten Kohäsionspolitik nach 2027, die die Regionen wirklich unterstützt und Transformationskosten abfedert, die durch den grünen und digitalen Wandel entstehen. Endlich ist neben der Energiewirtschaft auch die Automobilindustrie im Fokus dieser Politik. Wir hatten im Oktober schon über die Inhalte des Initiativberichtes informiert und zum Hintergrund, warum Just Transition auch auf solch wichtige Industriezweige ausgedehnt werden soll

Europasignet am Plenarsaal | Foto: Komstanze Kriese

Die EU gehört zu den weltweit größten Herstellern von Kraftfahrzeugen. Die Automobilindustrie erwirtschaftet einen Umsatz von über 7 Prozent des EU-BIP, in bestimmten Regionen bis zu 25 Prozent des regionalen BIP. Auf sie entfallen mehr als 6 Prozent der europäischen Arbeitsplätze. In Zahlen ausgedrückt bietet sie direkte und indirekte Arbeitsplätze für 13,8 Millionen Beschäftigte und ist der größte private Investor in Forschung und Entwicklung in der EU. Von den rund 3.000 Unternehmen der Automobilbranche sind 2.500 kleine und mittelständische Unternehmen.

Plenardebatte zur Lage in Israel und im Gazastreifen 

Erneut stand die Lage im bekanntesten und blutigsten aller Nah-Ost-Konflikte im Fokus der Plenardebatten. Am Dienstagnachmittag wurden unter dem Titel: „Notwendigkeit, alle Geiseln freizulassen und einen humanitären Waffenstillstand umzusetzen, und die Aussichten auf eine Zweistaatenlösung“ erneut Aussichten auf eine schnelle Konfliktbefriedung diskutiert. Martina sprach als Mitglied der parlamentarischen Delegation EU-Israel und hielt fest: 

„Was mit unbeschreiblichen Massakern der Hamas am 7. Oktober begann, mündet inzwischen in einen brutalen militärischen Rachefeldzug der Netanjahu-Regierung.
Das hilft den Terroropfern und den immer noch gefangen gehaltenen Geiseln und ihren Familien nicht. Wer, wie die Netanjahu-Regierung, nur militärisch operiert und denkt, trägt nicht zur Deradikalisierung bei.“

In Israel regt sich nach dem Tod von drei Geiseln immer lauter der Protest gegen die von Lösungen befreite Politik Netanyahus. Eine international begleitete Friedenslösung, die Israels Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit bietet und Palästina die Selbstbestimmung, verlangt auch ein stärkeres Engagement der EU, mahnt Martina in ihrer Rede.


Entscheidung zu sozialen und ökologischen Grenzen bei Projekten mit kritischen Rohstoffen 

„Auch wenn das Trilog-Ergebnis in dieser Hinsicht nicht so ehrgeizig ist wie das EP-Mandat, so stellt es doch eine deutliche Verbesserung gegenüber dem Kommissionsvorschlag dar. Gemischte Gefühle: Ja, wir müssen Abhängigkeiten reduzieren und müssen auch über heimischen Bergbau reden. Dass Rohstoffprojekte aber auch dann den Status als strategisch erlangen können, wenn sie in Naturschutzgebieten liegen, ist falsch und gefährdet den Umweltschutz.“, 

kommentierte Cornelia Ernst die Plenarentscheidungen zum Wochenauftakt und fügte an:



„Es ist gut, dass Projektentwickler*innen Pläne zur Konsultation indigener Gemeinschaften vorlegen müssen, wenn diese von einem strategischen Projekt betroffen sind. Es ist auch gut, dass Schadensminimierung und Entschädigung auf dieser Grundlage erfolgen müssen. Das Konsensprinzip, wie es in der EP-Position eigentlich vorgesehen ist, vermisse ich jedoch schmerzlich.“

In der internationalen Handelspolitik, so mahnte Helmut Scholz immer wieder, darf das Klima nicht der Konkurrenz geopfert werden. Kritische Rohstoffe sind schon lange ein heiß umkämpftes Feld in der Industrie- und Handelspolitik. Der Umgang mit ihnen verlangt strategische Entscheidungen, die vom Geist der wirtschaftlichen Kooperation getragen sind, auch um international Konflikte zu mindern und durch wirtschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil präventiv und nachhaltig zu bekämpfen.

Halb zog sie ihn, halb sank er hin: Geoblocking und die europäische Filmindustrie

© European Union 2023 – Source : EP DAINA LE LARDIC

Eine allbekannte Debatte durchzog wieder Abstimmungen am Mittwoch. Wie halten wir es mit dem Geoblocking im Audio-Visuellen Sektor ab 2025? Die Verordnung von 2018 hatte die audio-visuellen Medien aus dem Ende des Geoblockings ausgenommen, doch Verbraucher*innen hadern mit dem Top-Geschäfts-Modell der europäischen Filmindustrie und erwarten die Prüfung neuer Möglichkeiten des Filme-Sehens ohne Grenzen. Das will niemand zum Nulltarif, doch ein Flickenteppich der Zugänglichkeit, wie wir ihn derzeitig noch immer erleben, ist auch keine schöne Lösung. 
Die Filmindustrie hat jedoch erfolgreich gegen neue Lösungen lobbyiert, der Kulturausschuss folgt dieser Sichtweise und aus urheberrechtlichen Gründen wurde wieder einmal der Untergang des Abendlandes proklamiert, sollte das Geoblocking gelockert werden. Damit wurde die verbraucherfreundliche Anlage des Berichts erneut in der Abstimmung gestutzt.

„Diese Argumentation halten wiederum zivilgesellschaftliche Gruppen, unter ihnen Wikimedia Deutschland, für maßlos übertrieben. Die Zahlen von angeblich bedrohten Arbeitsplätzen beruhten auf keiner unabhängigen Studie. Außerdem fordere der Bericht, anders als von der Medienbranche behauptet, nicht dazu auf, territoriale Lizenzen abzuschaffen. ‚Alle Vorhersagen für die Zukunft der europäischen Medienbranche, die auf diesen Behauptungen basieren, sind grob fehlgeleitet und zeichnen ein täuschendes Bild des Berichts’, schrieb die Gruppe in einem offenen Brief. Ganz im Gegenteil: ‚Territorialer Protektionismus hilft niemandem außer den etablierten Industrien, die von einer ungerechtfertigten Teilung des Binnenmarkts profitieren.‘“,

fasste netzpolitik.org die Entscheidung zusammen. Martina hatte für ihre Kolleginnen und Kollegen erneut den Zielkonflikt ausführlich auseinandergenommen und in den Abstimmungen für einen moderaten Ausgleich zwischen filmpolitischen und Nutzer*innen-Interessen geworben. Noch ist Zeit, sich bis 2025 gemeinsam an den Tisch zu setzen und vielleicht auch andere Geschäftsmodelle neu zu diskutieren.


Straßburg zwischen Europapolitik und Weihnachtsmarkt

Abends in „Au Pont Saint-Martin“/Straßburg, 13.12.2023 | Foto: Jörg Bochmann

Inzwischen schon fast Tradition kam die letzte Besucher*innengruppe in diesem Jahr wieder ins beschauliche Straßburg. Jörg Bochmann begleitete Europainteressierte aus Berlin, die den langen Weg mit dem Bus am Mittwoch angetreten hatten. Ein weihnachtlich gestimmtes Elsass wartete auf die Besucherinnen und Besucher, aber auch das betriebsame Europaparlament in seiner letzten Plenarwoche 2023. 

„Am Donnerstagmorgen ging es früh sofort ins Europaparlament. Nach einer sehr informativen, knapp halbstündigen Einführung durch den Besucherdienst in die Strukturen der Europäischen Institutionen, deren Aufgaben, in die Besonderheiten des Europäischen Parlaments und dessen politischen Aufbau, erläuterte Martina Einzelheiten ihrer Arbeit als Abgeordnete. Wie funktionieren die Fachausschüsse? Was sind die geschichtlichen Hintergründe für den Parlamentssitz in Straßburg, der allmonatlich die anstrengende Wanderung aller Büros aus Brüssel und zurück nach sich zieht? Wo liegen die Hoffnungen auf eine progressive Europapolitik, wie sie Bürgerinnen und Bürger in der Konferenz zur Zukunft Europas selbst entworfen hatten? Die Zeit verging zu rasch, um alle Fragen zu beantworten.“

Doch es gab noch mehr Gelegenheit zum Austausch, wie ihr dem ganzen Bericht entnehmen könnt. Und, es wird auch im neuen Jahr Möglichkeiten geben, sich umfangreich über Europapolitik zu informieren. Immerhin sind im Juni 2024 Europawahlen. Da ist es nicht verkehrt, schon etwas eher zu erkunden, was Politikerinnen und Politiker in Brüssel wollen und vor allem auch, was sie bisher erreicht haben. In diesem Sinne wünschen wir erst einmal frohe und friedliche Festtage und eine Guten Rutsch und freuen uns, wenn wir uns im Januar wieder bei „Martinas Woche“ oder zu anderen Gelegenheiten begegnen!

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.