Martinas Woche 49 – 2019

Veranstaltung: Gibt es eine Europäische Identität? mit Martina Michels und Anne Helm (Moderation: Konstanze Kriese) | Foto: Jörg Bochmann

Europas Geschichte – Europas Grenzen

In dieser Ausschusswoche in Brüssel lag der mediale politische Fokus europaweit beim UN-Klimagipfel in Madrid, bei den Massenprotesten in Frankreich und beim Nato-Gipfel in London. In Deutschland wurde vor allem der SPD-Parteitag wild kommentiert. Die Wahl von Esken und Walter-Borjans zum neuen Führungsduo hat die Partei offenbar genauso überrascht, wie die politischen Kontrahenten und die Medien. Martina hatte mal wieder sich überschneidende Sitzungen im Kultur- und Regionalausschuss und lud am Freitag nach Berlin u. a. zu einem Gespräch unter dem Titel „Gibt es eine Europäische Identität?“ gemeinsam mit der Berliner Politikerin Anne Helm. Am Samstag trafen sich in Berlin Interessierte zu einer Konferenz der LINKEN, die unter dem Motto stand: (K)eine automatische Revolution – Konferenz zu Digitalisierung und sozialer Gerechtigkeit. Zeitgleich war Martina in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen, um in Elgersburg bei der Fraktionsvorsitzendenkonferenz teilzunehmen.

Brüssel I:  Kultur, Jugend, Freiwilligendienste: Triloge am laufenden Band

Innerhalb des Kulturausschusses wurde diesmal in camera, also in geschlossener Sitzung, der Stand der Triloge zu drei Programmen, die von 2021 – 2027 Europäische Kultur- und Jugendpolitik mitbestimmen werden, diskutiert. Triloge sind Verhandungen zwischen dem Europäischen Rat, derzeit vertreten durch die Finnische Ratspräsidentschaft, der Kommission und dem Parlament, indem dann der letzte Schritt zur Gesetzgebung durch Verhandlung zwischen den unterschiedlichen Position der drei Gesetzgeber gegangen wird. Das Verhandlungsergebnis liegt am Ende nochmals dem Parlament zur Entscheidung vor oder geht bei Ablehnung in eine erneute Verhandlungsrunde. Martina ist beim Programm Creative Europe im Trilog beteiligt.

Weiterhin wird derzeit auch über eins der Flaggschiffe der EU-Förderprogramme Erasmus+ und das Europäische Freiwilligenprogramm mit dem militanten Namen Solidarity Corps debattiert. Einerseits redet noch niemand über das letztendliche Budget, denn die neue Kommission ist gerade erst gewählt, andererseits ist man bei vielen Inhalten weit gekommen.

Ein Problem zieht sich jedoch durch alle Verhandlungen, das unter dem kurzen Stichwort Governance behandelt wird. Es geht darum, dass das Parlament dann auch im laufenden Programm bei aktuellen Veränderungen und Anpassungen mitentscheiden will, weshalb es eine sogenannte delegierte Rechtsakte gegenüber einer implementierten Rechtsakte bevorzugt. Die Kommission schlägt statt der vollen Mitentscheidung lieber Stakeholder-Dialoge vor, doch denen fehlt die Entscheidungsgewalt. Der Rat teilt durchaus des Anliegen des Parlaments und nun gilt es in den kommenden Wochen dafür und für andere Punkte gemeinsame Lösungen zu finden.

Brüssel II: 25 Jahre Ausschuss der Regionen

Martina war, als sie noch in der Berliner Politik fest verankert war, selbst viele Jahre Mitglied im Ausschuss der Regionen(AdR), in einem Gremium, in dem lokale und regionale Regierungs- und Parlamentsvertreter*innen, Bürgermeister oder Staatssekretärinnen Vorhaben der EU-Politik rechtzeitig bewerten und mit Stellungnahmen die Gesetzgebung begleiten. Die Mitglieder des Ausschusses der Regionen nutzen denselben Plenarsaal wie das Parlament in Brüssel und oft werden deren monatliche Sitzungen auch für Treffen mit den Europaabgeordneten genutzt. Die Stellungnahmen sind insofern interessant und leider oft unterschätzt, weil im AdR die Großthemen, wie Klimawandel, Migration oder Digitalisierung ganz konkret diskutiert werden, denn hier reden die Kommunen, die Städte, die ländlichen Regionen über nachhaltige Politik, über sinnvolle Förderpolitik oder auch die Folgen verfehlter Ansätze im Alltag. Durch Martinas Mitgliedschaft im Regionalausschuss ist ihr Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen im AdR naturgemäß sehr intensiv,  so dass sie auch die Begegnungen am Abend der 25-Jahr-Feier gemeinsam mit zwei sozialdemokratischen Abgeordneten aus Berlin und Sachsen, mit Gabriele Bischoff und Constanze Krehl, intensiv nutzte.

UN-Klimagipfel in Madrid

TWITTER_AUSRISS ZUM #COP25 IN MADRID

Der Klimagipfel in Madrid bekommt sichtbaren Druck von der Straße und daran beteiligte sich auch unserer Fraktionsvorsitzender Martin Schirdewan, gemeinsam mit vielen Klimaaktivistinnen und Aktivisten. Am Freitag gab es einen medialen Krieg der Zahlen. Während spanische Behörden von 15.000 Protestierenden sprachen, beschrieben die Aktivistinnen und Aktivisten, dass eine halbe Million Menschen auf den Strassen Druck gemacht hat. Und trotzdem räumte Greta Thunberg am Sonntag morgen ein, dass so gut wie nichts seit den seit einem Jahr anhaltenden Protesten erreicht wurde, der CO2-Ausstoß statt zu sinken, sogar angewachsen sei. Auch wir fordern mehr Tempo beim Klimaschutz und werden deshalb ganz genau hinhören, was die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in der kommenden Woche vorschlagen wird. Für ihren angekündigten Green New Deal wurde immerhin ein Sonderplenum des Parlaments am 11.12. in Brüssel einberufen.

Frankreich protestiert

Macron verwirrt außen- und vor allem auch innenpolitisch. Während er vor dem NATO-Gipfel, nachdem er der Organisation den „Hirntod“ bescheinigte, sich mit der Türkei anlegte und zum anderen ein Europäisches Sicherheitssystem einfordert, welches stärker auf Russland zugeht – und über beides ließe sich durchaus diskutieren, wenn er diese Stoßrichtung nicht zugleich mit einer drastischen Aufrüstung verbinden würde -, will er demnächst innenpolitisch in Frankreich eine Rentenreform durchsetzen ohne Dialoge mit Gewerkschaften und anderen Gruppen angeboten zu haben. Wir kennen es zur genüge, was stramm Liberale unter Reform verstehen. Das sind de facto Rentenkürzungen und keine Vorstöße für ein gerechtes Rentensystem für alle. Frankreich ist für umfassende Streikmobilisierungen bei der Verteidigung sozialer Errungenschaften bekannt. Danielle Tartakowsky, die französische Historikerin und Expertin für die Geschichte der sozialen Bewegungen, erläutert im Interview, wie Macron den demokratischen Dialog erneut verfehlt ohne eine Prognose für den Erfolg des Generalstreiks abgeben zu können.

Bihać – Flucht ohne Ankunft?

Foto: FREIHEIT FÜR CAROLA RACKETE

Vom 11. – 14. Dezember 2019 fährt eine Delegation der linken Fraktion im Europaparlament nach Bihać, um Hilfemöglicheiten für die Menschen aus dem Flüchtlingslager Vučjak auszuloten, dass vor den Toren der EU, bei Kälte und Wintereinbruch, zum Symbol der Unmenschlichkeit gegenüber Menschen auf der Flucht geworden ist. In diesem Video werden die derzeitig eskalierenden Entwicklungen zusammengefasst und hier nehmen Cornelia Ernst und Özlem Demirel, die nächste Woche nach Bihać reisen werden, Stellung. Unsere Abgeordneten begleiten diese schwierige Reise mit Spenden von allen Kolleginnen und Kollegen, von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, damit von den Hilfeorganisationen wenigstens wärmende Schlafsäcke u. ä. ausreichend herbeigeschafft werden können. Letztlich wird ihr Auftrag jedoch über die caritative Hilfe hinaus gehen müssen. Wir brauchen andere politische Lösungen für Menschen auf der Flucht als Wegschauen, Ertrinken oder Erfrieren lassen.

Bericht des Auswärtigen Amtes zur Lage in Syrien

Einen erschütternden Bericht legt derzeit das Auswärtige Amt in Deutschland zur Lage in Syrien vor. Nur wenige Maßnahmen zur verlängerten Anerkennung der Flüchtlingseigenschaften folgen und am Ende des Dokuments, das vorrangig das Assad-Regime im Kampf gegen die eigene Bevölkerung beschreibt, wird festgehalten: „Im AA-Bericht ist zudem von Menschenrechtsverletzungen im Gebiet der Kurdenmiliz YPG im Norden und Nordosten Syriens die Rede. Das gilt auch für die von türkischen Truppen besetzten Gebiete an der Grenze.“ 

Und da war doch noch etwas Hoffnung auf den Verfassungsprozess in Genf, der erstmals auch einen Teil der syrischen Opposition an den Verhandlungstisch unter Moderation der UN holt, leider gänzlich ohne die kurdische Opposition und Selbstverwaltung. In einem Interview beschreibt der syrische Verfassungsrechtler Naseef Naeem die Hürden des Konfliktlösungsversuchs unter UN-Regie.

Quo vadis SPD?

Der Blätterwald hat sich überschlagen und wird auch nach der Wahl von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans nicht müde, diverse Dramen rund um den Bestand der Großen Koalition an die Wand zu malen. Wir wollen dem neuen Duo erst einmal gratulieren und finden es bemerkenswert, dass eine gestandene Netzpolitikerin wie Saskia Esken jetzt Parteivorsitzende ist und das dies zugleich medial kaum jemanden interessiert.

Ein, die Gemüter etwas ernüchternder Kommentar zur Wahl und den damit verbundenen strategischen Optionen können wir bei sozialismus.de  nachlesen. In gewohnt pointierter Form beschreibt Alban Werner unter der Überschrift „Kann die SPD sich neu erfinden?“ eine sozialdemokratische Profilierungsstrategie bei gleichzeitiger Fortsetzung der Großen Koalition. Ganz so weit entfernt davon, diesen Kurs zu unterstützen, scheint auch der inzwischen zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählte Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert nicht, der den SPD-Parteitag mit einer beindruckenden Bewerbungsrede überraschte.

Veranstaltung am 6.12.2019 in Berlin: Gibt es eine Europäische Identität?

Martina Michels, 6.12.019 in Berlin | Foto: Peter Cichorius

Am Freitag lud Martina Michels ins Café Sibylle nach Berlin ein.

Dietmar Köster stimmte als einziger sozialdemokratischer Europaabgeordneter im September gegen eine Geschichtsresolution des Europaparlaments. Was es mit dieser Resolution auf sich hat, hatten wir hier schon mehrfach berichtet. In dem Gespräch, gemeinsam mit der Berliner Politikerin Anne Helm, ging es am Freitag Abend vor allem um die Folgen der Totalitarismusdoktrin, dem Umgang mit einer von Rechtsaußen betrieben Geschichtsdeutung europäischer Herkunft.

Es ging überdies in der Debatte um einen Umgang mit der verfehlten Kunstaktion des Zentrums für Politische Schönheit, sowie um das völlige Ausblenden der Kolonialgeschichte in den Erzählungen über europäische Geschichte. An diesem Abend konnten das große Thema und seine aktuellen Konsequenzen nur fokussiert werden. Doch die Fehlstellen und Klippen wurden deutlich und wir haben uns vorgenommen, hier gemeinsam, auch mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die selbst schon Tagungen dazu vorgelegt hat, weiterzuarbeiten. Immerhin konnten wir an diesem Abend auch Andreas Thomson, den Leiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel begrüßen. 

Duo: Christina Zurbrügg und Michael Hudecek | Foto: Uwe Stümke

Die Frage der Europäischen Identitäten wurde an diesem Abend auch noch auf andere Art und Weise angepackt, indem das Musiker*innen-Duo Christina Zurbrügg und Michael Hudecek das heimattümelnde Jodeln aus seinen einstigen Zusammenhängen riß und ohne diese zu verschweigen mit Jazz und Rap in Kontakt und das Publikum zum Singen brachte.

Linke Digitalkonferenz in Berlin

Abschlusspodium auf der Digitalkonferenz am 7.12.2019 in Berlin | Uwe Stümke

Am Samstag fand in Berlin eine Konferenz zur gerechten Gestaltung der Digitalisierung statt. In vielen Arbeitsgruppen wurden Sichtweisen zusammengetragen, wie eine demokratische Netzpolitik in ganz unterschiedlichen Politiken aussehen könnte. Im Vorfeld hatten Katja Kipping, Julia Schramm, Anke Domscheit-Berg und Martin Delius ein Diskussionspapier verfasst, dass in der SZ kommentiert wurde.

Auf der Konferenz, so wurde von Teilnehmerinnen und Teilnehmern berichtet, pflegte niemand Technologiefeindlichkeit und wurde daher vor allem der digitale Fortschritt mit Fragen der ausbleibenden politischen Regulation verbunden, die durch die Monopolisierung der großen Technologie-Konzerne und Plattformen an vielen Ecken und Kanten ungelöst ist. Ausbleibende Besteuerung und sozial entsicherte Arbeitsmärkte (UBER, Deliveroo; Amazon u.a.) wurden beleuchtet. Etwas salopp wurden z. .T. Verstaatlichungen der Netzstrukturen und digitalen Unternehmen vorgeschlagen, ohne ins Detail zugehen, was allenthalben noch keine transnationale Lösungen einschließt, die aber vonnöten sind, wenn wir den Zugang zu Wissen, Information, Kommunikation und demokratischen Möglichkeiten des Netzes gestalten wollen. Insofern wäre ein spezifischer Blick auf europäische und Internationale Lösungen, wie sie mit dem IFG-Foren (zumal das letzte gerade Ende November in Berlin statt fand) und den Welt-Informationsgipfeln in Tunis und Genf seit Jahren diskutiert wurden, vielleicht eine Bereicherung der noch vagen politischen Ansätze gewesen. Das ND hat inzwischen von der Konferenz, die leider ohne livestream nur den persönlich Teilnehmenden offen stand, berichtet.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.