Martinas Woche 46 / 47 – 2023

Das Restaurant "Egalité" (Gleichheit) in Brüssel, St. Gilles | Foto: Konstanze Kriese

Deutsche Schuldenbremse mit 28 Mrd. Euro aus Brüssel flankiert – Tiefpunkte und Highlights des Novemberplenums

NextGenerationEU und die Deutsche Schuldenbremse – Plenartagung: Net Zero Industrial Act – Lage in Gaza – Kulturarbeit – Reform der EU-Verträge

Martina Michels; Konstanze Kriese

Direkt vom Linken-Parteitag, der am Wochenende in Augsburg tagte und einen tollen Personalvorschlag für die Eurowahl wählte sowie das Europawahlprogramm der Linken für 2024 (bis 2029) beschloss, fuhr Martina mit ihren Kolleg*innen nach Straßburg zum November-Plenum des Europaparlament. Im Mittelpunkt der Tagung standen erneut am Mittwochmorgen die Lage im Gaza-Streifen, mehrere Abstimmungen zur EU-Investitionspolitik, zu Kulturarbeiter*innen u. v. a.

Tragisch, und nicht so erwartet, war die Ablehnung eines Berichts, der das Zurückdrängen von Pestiziden im landwirtschaftlichen Einsatz zum Ziel hatte. Das war ein Tiefpunkt der Tagung der vergangenen Woche in Straßburg. Nicht viel besser liefen die Abstimmungen zur Investition in eine zukunftsfähige Industrie, die ohne „Brückentechnologien“, wie Atomkraft und Fracking-Gas auskommt. Der graue November zeigt hatte am Ende auch kaum europapolitische Lichtblicke. 

Während Deutschland über seine Schuldenbremse diskutiert, kommt ein 28-Mrd.-Euro-„Geldregen“ aus Brüssel

Das Urteil aus Karlsruhe über verfassungswidrige 60 Mrd. Euro des laufenden Haushalts hat in Deutschland ein politisches Erdbeben ausgelöst, dabei besagte es weder, dass Schulden machen des Teufels ist, nur sollte es richtig begründet werden, noch wendete es sich speziell gegen den Klima- und Transformationsfonds, der insgesamt 200 Mrd. Euro umfassen sollte. Doch erst einmal sind – unter Beifall der CDU und verhalten auch von Finanzminister Lindner – 60 Mrd. Euro passé.

War es das nun mit dem Industriestrompreis, dem Wasserstoffnetzausbau, der Bahnmodernisierung, den Strom- und Gaspreisbremsen in privaten Haushalten und den geplanten IT-Ansiedlungen in Sachsen und Sachsen-Anhalt?

Europasignet am Plenarsaal | Foto: Komstanze Kriese

Schauen wir mal vor die Haustür: Deutschlands Schuldenquote liegt bei 66 Prozent die chinesische bei 77, die der USA bei 121 und der EU-Durchschnitt bei 84 Prozent. China und die USA nehmen auch beherzt neue Schulden auf, um ihre Wirtschaft für das 21. Jahrhundert flott zu machen. Es war auch das Bundesverfassungsgericht, welches 2021 urteilte, dass Deutschland mehr tun müsse, um seine internationalen Verpflichtungen bei der Einhaltung der Klimaziele zu erreichen. Vielleicht lohnt es, die Kosten einer nicht bekämpften Klimakrise, die auf uns zurollt, zu berechnen (Flucht, Hunger, Unwetter – alles längst wissenschaftlich belegt).

Wir schaffen keine gerechte Zukunft für die nächste Generation, wenn wir jetzt sparen, auch wenn die FDP und die CDU das von früh bis spät behaupten. Vielleicht wären ein militärisches Abrüstungs- und ein klimasoziales Aufbauprogramm der sinnvollere Weg. Und da kommt ausgerechnet die EU ins Spiel, die nun auch nicht gerade für soziale Weitsicht bekannt ist. Die Kommission bewertet nämlich den deutschen Aufbauplan, den sie im Rahmen des NextGenerationEU-Programms vorgelegt bekam, als positiv. Diese Entscheidung datiert auf den 16. November 2023 und dieser Plan umfasst einen Wert von 28 Mrd. Euro an Zuschüssen aus der Aufbau- und Resilienzfazilität. Deutschland beantragte in seinem Plan, zusätzliche Investitionen zur Finanzierung grüner Fernwärmenetze, für die private Anschaffung von Elektrofahrzeugen und die Installation von elektrischer Ladeinfrastruktur einzuplanen. Ob dies die wichtigsten Maßnahmen sind, sei dahingestellt, mehr Bahn als private Automobilität hielten wir für viel sinnvoller, doch immerhin. Bisher hat Deutschland im August 2021 eine Vorfinanzierung der Aufbau- und Resilienzfazilität in Höhe von 2,25 Mrd. € erhalten und im September 2023 einen ersten Zahlungsantrag gestellt. 

Das löst alles noch nicht die Wiedererlangung von Gestaltungsmacht gegenüber den eigenen Haushaltsansätzen für eine gerechte und investitionsfreudige Politik. Für 2023 mag eine Notlage begründbar sein. Für 2024 muss sich die Koalition aber etwas Substanzielles einfallen lassen, hält sie an deren Fortbestand fest. Deutschland müsste endlich mal mit seinem liberalen Sparmantra brechen, das erwiesenermaßen wirtschaftspolitischer Unsinn ist, und sich auf eine Investitionspolitik einlassen, die diesen Namen auch verdient.


Talk bei Phönix und Plenardebatte zur Lage im Gaza-Streifen 

Inzwischen überschlagen sich die Ereignisse. Die Feuerpause hat begonnen. Erste Geiseln, die die Hamas am 7. Oktober 2023 entführt hatte, darunter viele Arbeiter*innen aus Thailand, wurden freigelassen. Noch am Mittwoch, als die Verhandlungen dazu langsam in Umrissen bekannt wurden, diskutiert das Europaparlament erneut in seiner Hauptdebatte am Morgen zur humanitären Lage im Gaza-Streifen. Bevor die Debatte begann, war Martina von Phönix geladen, um einer Debatte, gemeinsam mit der FDP-Politikerin,Nicola Beer, zu führen, die über die aktuellen Entwicklungen hinausschaut und auch fragte, was nach Feuerpausen, Waffenstillständen und begonnenen Friedensverhandlungen tatsächlich passieren muss, damit der Zustand einer friedlichen Entwicklung in der Region nachhaltig wird und stabil bleibt. Martina beantwortete speziell auf diese Frage, die weit über die derzeitigen unmittelbaren Vertragskontrahenten für einen Waffenstillstand, Netanyahu und Abbas, hinausgeht und die Nachbarstaaten der Region unbedingt einbezieht. Das ganze Gespräch ist hier nachhörbar.


Wichtiger Beschluss ohne Debatte: Kulturarbeit braucht mehr Sozialschutz

Rue de Mons – Industriestraße in Charleroi | Foto: Konstanze Kriese

Es ist immer dasselbe: Kulturpolitik, Medienpolitik, Bildung… selten stehen sie wirklich ausführlich im Fokus der Plenardebatten. Einerseits mag es damit zu haben, dass die Mitgliedstaaten dafür die politische Kompetenz haben, andererseits sind all diese Bereiche schon so lange grenzübergreifend politisch wichtig und es gibt durchaus Regelungsbedarf, den nicht nur die Mitgliedstaaten betreffen. Am Dienstagmittag wurde der Bericht für ein EU-Rahmenwerk zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Kulturbranche verabschiedet. Martina war Schattenberichterstatterin und hatte am Bericht, gemeinsam mit den Kolleginnen aus dem Beschäftigungsausschuss mitgearbeitet. Hier könnt ihr das vorläufige Ergebnis in Gänze nachlesen. 

Europäische Industriepolitik – strategische Irrlichterei

Cornelia Ernst erzählt im Telegrammstil von der wundersamen Wandlung Europäischer Finanz- und Investitionspolitik: 

„Vor nicht allzu langer Zeit galt hier in Brüssel noch das Credo, dass freie Märkte und eine ‚solide‘ Finanzpolitik genügen würden, um die wirtschaftlichen Geschicke der Union zu bestimmen. Doch mit COVID, einer brutalen Energiepreiskrise und dem globalen Wettrennen um grüne Technologien wurde klar: Der Markt allein genügt nicht, es braucht staatliche Interventionen.“

Doch dann muss sie festhalten:

„Das ist aus linker Sicht zunächst begrüßenswert. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die Union alten Wein in neuen Schläuchen verkauft. Denn anstatt massive öffentliche Investitionen zu mobilisieren, vertraut man einzig darauf, durch beschleunigte Genehmigungsverfahren private Investitionen anzureizen. Die privaten Unternehmen bleiben am Steuer der Transformation. Strategische Planung und öffentliche Kontrolle der Transformation bleiben so weitestgehend aus. Die richtigen Vorgaben zum öffentlichen Beschaffungswesen reichen für eine Kurskorrektur nicht aus.
Dort, wo Unternehmen öffentliche Mittel zugutekommen sollen, vermisst man klare soziale und ökologische Konditionen schmerzlich. Öffentliche Mittel müssen an gute Arbeitsbedingungen, hohe Löhne und Standortgarantien geknüpft sein. Es ist doch außerdem völlig klar, dass Unternehmen, die von öffentlichen Mitteln profitieren, keine Dividenden ausschütten dürfen sollten!“

Auch, wenn dies allein schon eine politische Enttäuschung erster Klasse ist, setzt die Liste der Netto-Null-Technologien, die der lobbyisten-getränkten EU noch immer heilig sind, die vergiftete Krone auf die getroffenen Entscheidungen über den „Net Zero Industry Act“ (NZIA): E-Kraftstoffe, Atomkraft und Fracking-Gas sind wohl eher Ausdruck strategischer Fehlentscheidungen als zukunftsweisender Investitionspolitik


Parlament schlägt Reform der EU-Verträge vor

Helmut Scholz im Straßburger Plenum | Foto: Alain Rolland©EUROPEAN UNION 2023 – SOURCE : EP

„In einer historischen Abstimmung hat das EU-Parlament am Mittwochnachmittag eigene Vorschläge für eine Reform der EU-Verträge beschlossen. Nachdem das Parlament sich bereits im vergangenen Jahr für die Ausrichtung eines vertragsverändernden Konvents nach Artikel 48 EUV ausgesprochen hatte, folgte keine Reaktion des Rates. Nun soll der Druck erhöht werden.“ 

urteilt Helmut Scholz in der vergangenen Woche. Er ist Mitglied im verfassungsgebenden Ausschuss (AFCO) und hält – auch vor dem Hintergrund der EU-Erweiterungspolitik – fest: „In den allermeisten Politikfeldern – mit Ausnahme von militärischen Missionen oder Operationen mit Exekutivmandat – fordern wir die lange überfällige Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip im Rat. Eine EU-Erweiterung ohne diese Reform wäre praktisch undenkbar.“

Seinen ganzen Kommentar, findet man hier.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.