Martinas Woche 45 – 2021. Keine Woche wie jede andere: Francis Haugen im Europaparlament

Screenshot von der Anhörung mit Francis Haugen, 8.11.21

Martina Michels, Konstanze Kriese

Whistleblowerin Francis Haugen – COP26 in Glasgow – Mindestlohn – Migration – Veranstaltungs-Tipp

Keine Woche wie jede andere, denn der Montag begann mit einer beeindruckenden Anhörung der Whistleblowerin Francis Haugen, die für Facebook arbeitete und inzwischen über die Verantwortungslosigkeit ihres einstigen Arbeitgebers informiert: sachlich, überaus kompetent und im Sinne des öffentlichen Interesses, um das Rückgrat einer demokratischen Kommunikation zu retten.

Martina MIchels im Gespräch mit ihrem Kollegen Helmut Scholz im EU-Parlament | Foto: Nora Schüttpelz

Auf Martina wartete in Brüssel zugleich eine bewegende Fraktionssitzung, in der Cornelia Ernst die Situation an der polnischen Grenze schilderte, an der derzeit Menschen auf der Flucht erleben, was zuvor auf den griechischen Inseln und der einstigen Balkanroute praktiziert wurde. Es werden alle – nach der internationalen Flüchtlingskonvention – gebotenen Möglichkeiten, einen Asylantrag in der EU zu stellen, verweigert. Stattdessen werden Grenzzäune errichtet, Menschen sich selbst überlassen, ohne Nahrung, Medikamente oder ein Dach über den Kopf, und die gesetzwidrigen Pushbacks werden von Streitkräften und Polizei inzwischen auch an den polnischen Grenzen beobachtet.

Facebook-Whistleblowerin Haugen im Gespräch mit Europaabgeordneten und die Schwierigkeiten bei der Plattformregulierung

Die ehemalige Facebook-Mitarbeiterin Frances Haugen war am Montag über drei Stunden im Gespräch mit Europaabgeordneten. Sie arbeitete von 2018 bis 2021 als leitende Produktmanagerin bei Facebook. Als Whisteblowerin hat sie im September schädliche Praktiken des Unternehmens aufgedeckt. Die Anhörung von Frances Haugen sollte den Abgeordneten dabei helfen, Online-Plattformen wie Facebook besser zu verstehen. Das ist besonders wichtig für das neue Gesetz für digitale Dienste und das Gesetz zur Fairness auf digitalen Märkten, über das die Abgeordneten des EU-Parlaments zurzeit beraten. Ziel der Gesetzesvorhaben ist es, ein sichereres und transparenteres Internet durch die Nutzung der Plattformdienste zu bekommen, indem u. a. Jugendschutz eingehalten wird und Hassreden und Fake-News keine Chance haben.

Wer der Anhörung des IMCO-Ausschusses nochmals folgen will, kann dies hier tun. Es war wirklich absolut beeindruckend, wie Haugen beschrieb, wie das soziale Netzwerk die volle Verantwortung für Fake-News, Radikalisierungen, schädliche Inhalte u. a. trägt. Sie zerlegte im Detail das Märchen von der Selbstregulation und zeigte die Schwäche der Regulierungsinstitutionen auf. Deutlich wurde, dass es nicht nur um Marktregulationen gehen kann, sondern um die politischen Konsequenzen bei der Untergrabung von Grundrechten gehen muss.

Das ist alles im allem nicht einfach und manches droht über das Ziel hinauszuschießen, denn uns begegnen wieder alte Bekannte, die bei der Regulation helfen sollen: die Uploadfilter und die schnellen Löschfristen, der Anspruch, die Haftung und Kontrolle zwar einerseits den großen Plattformen abzuverlangen, aber sie damit andererseits aus einer öffentlichen demokratischen Kontrolle zu geben. Ob das ein geeigneter Weg ist, kann und muss durchaus bezweifelt werden, wie es hier Julia Reda, die Ex-Piratin und ehemalige Europaabgeordnete in einem Beitrag für netzpolitik.org zusammenfasst.

Mit der Belarus-Route geht das Politikversagen der EU in eine neue Runde

Abgeordnete von The Left an der Grenze zwischen Slowenien und Kroatien, 12.10.2021 | Foto: Konstanze Kriese

Nach der berühmten Balkanroute, die heute mit Stacheldraht verbarrikadiert ist, nach den entsetzlichen Zuständen auf den griechischen Inseln, die u. a. im Brand in Moria gipfelten, ist nun die Belarus-Route in aller Munde. Die Bilder und die bitteren Wirklichkeiten gleichen sich. Menschen auf der Flucht werden ihrem Schicksal überlassen und sind nichts als der Spielball von Schlepperbanden und staatlichem Komplettversagen der EU-Mitgliedsstaaten. Doch anstatt dieses wiederkehrende Politikversagen zu nutzen, um die Migrationspolitik der EU wieder auf humanitäre Füße zu stellen, wird die zugespitzte Lage vor allem ausgenutzt, um Lukaschenko zu verdammen, als ob es dafür nicht tausend andere Gründe ohnehin schon gäbe.

In der Fraktionssitzung am vergangenen Mittwoch schilderte Cornelia Ernst eindringlich die derzeitige Lage an der polnischen Grenze. Die Fraktion einigte sich sofort und ohne Umschweife darauf, zur polnischen Grenze zu fahren, die Lage mit NGOs zu besprechen und zu den politischen Forderungen einer Asylpolitik zurückzukehren und diesen wieder deutlich Gehör zu verschaffen, die mindestens die Antragstellung und die Grundversorgung ermöglichen.

Gute Nachricht: Dem Europäischen Mindestlohn ein Stück näher

„Die heutige Ausschussentscheidung ist wichtig, denn 20,5 Millionen Menschen in der EU leben trotz Arbeit in einem von Armut bedrohten Haushalt.“ , schrieb Özlem Demirel am Donnerstag, nachdem der Beschäfigungsausschuss entscheidende Schritte dahingehend verabschiedete, wie ein gesetzlicher Mindestlohn zusammengesetzt werden muss und wer dabei am Tisch zu sitzen hat, wenn dieser ausgehandelt wird. Arm trotz Erwerbsarbeit, Jobben in drei Verträgen, prekäre und befristete Beschäftigung ist europaweit Alltag für viele Menschen. Immer häufiger stehlen sich die Unternehmen aus der Verantwortung der sozialen Sicherung, ganz dramatisch bei den neuen Plattformarbeitern, die sich in den digitalen Märkten gegenseitig zu Tiefst-Angeboten verkaufen müssen. Auf der Strecke bleiben die Kosten für die Wohnunterkunft, den Energiebedarf, so dass es längst Menschen gibt, die in der Saison in beengten Unterkünften leben oder gar vom Zeltplatz aus zur Arbeit gehen. Armut zu beenden, ist nicht nur ethisches und politisches Gebot, es ist auch volkswirtschaftlich sinnvoll, denn regionales Handwerk und viele andere Angebote, die das Leben erleichtern und verbessern, können sich nur Menschen leisten, die ein angemessenes Einkommen für ihre Arbeit erhalten.

COP 26 und ein Veranstaltungs-Tipp

„Das reichste Prozent der Weltbevölkerung verursacht fast doppelt so viele Emissionen wie die 50 Prozent der Menschheit mit den niedrigsten Einkommen.“, erinnert Cornelia Ernst zu Wochenbeginn, als die Weltklimakonferenz in Glasgow in ihre zweite Woche ging. Es ist zuerst die Lebensweise der reichen Länder, die dazu geführt hat, dass Kipppunkte der Klimaerwärmung überschritten sind. Doch mit Appellen an das individuelle Konsumverhalten erreichen wir so gut wie nichts, wenn sich strukturell nicht die Energiebasis, die Art einer Ressourcen schonenden Mobilität, Ernährungsstrategien und vieles mehr ändern. Viele Lösungen verlangen demokratische Akzeptanz und sind regional wie global eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Dafür gingen am vergangenen Wochenende mehr als 100.000 Menschen in Glasgow auf die Straße. Die Jugend ist längst aufgestanden und ist es leid, die ewigen Versprechungen der Regierungen anzuerkennen, wenn denen keine Taten folgen.

Wie konkret dann der strukturelle Umbau aussehen kann und muss, wird Martina als Teilnehmerin einer Veranstaltung am kommenden Mittwoch, 17.11.2021, erörtern, wenn es heißt: „Gerechter Übergang und Krisenerholung – Just Transition Fonds-Programmierung im Kontext der Umsetzung der Nationalen Wiederaufbaupläne“. Programm und der Link zur Teilnahme an der Veranstaltung sind hier zu finden.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.