Martinas Woche 42 – 2021: Parlament verklagt EU-Kommission wegen Untätigkeit

Plenardebatte, 19.10.2021 | Screenshot: Konstanze Kriese

Martina Michels, Konstanze Kriese

Rechtsstaatsmechanismus & Polen – Kultur und Medien – Frontex – EU Ratsgipfel

„Präsident David Sassoli hat heute die Juristischen Dienste des Europäischen Parlaments gebeten, eine Klage gegen die Europäische Kommission wegen Nichtanwendung der Konditionalitätsverordnung vorzubereiten. Die im Dezember letzten Jahres verabschiedete Verordnung erlaubt es der EU, Zahlungen aus dem EU-Haushalt an Mitgliedstaaten auszusetzen, in denen die Rechtsstaatlichkeit bedroht ist.“ beginnt eine Presseerklärung des Parlamentspräsidenten pünktlich zum Auftakt des Ratsgipfels der Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten. Ein Novum, eine Kampfansage und eine Konsequenz auch der wohl markantesten Debatte der letzten Plenarwoche in Strasbourg, zu der am Dienstag der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki geladen war, um den  Abgeordnete Rede und Antwort zum Urteil des polnischen Verfassungsgerichtes zu stehen, welches dem Vorrang des Europäischen Rechts ganz grundsätzlich widerspricht und in dieser Grundsätzlichkeit auch anders als alle anderen Urteile zu werten ist, in denen nationale Rechtssprechungen Haushaltsvorbehalte u. a. gegenüber europäischem Recht positionierten.

Eine nicht minder heftige Debatte wurde bei der Frage der Haushaltsentlastung geführt, als es um die Grenzschutz-Agentur Frontex ging, obwohl diese Debatte dann nicht dasselbe mediale Echo fand, welches eigentlich wünschenswert gewesen wäre.

Noch unspektakulärer wurden am Montagabend zwei Berichte vorgestellt und dann auch am Dienstag abgestimmt, in denen es um die Medienlandschaft und die Lage der Kulturschaffenden nach der Pandemie geht.

Am Ende der Woche kreisten dann wieder einmal die Hubschrauber über Brüssel und man wusste in dieser Stadt: Aha, die EU-Regierungschefs tagen noch…

Polen und die Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus

Ein denkwürdige Debatte entstand am Dienstagvormittag im Europaparlament. Nachdem Mateusz Morawiecki, der polnische Premierminister gesprochen hatte, ohne auch nur mit einem Satz zu erwähnen, wie in Polen bereits die unabhängige Justiz gelitten hat, indem Richter einfach von einer illegitimen Disziplinarkommission suspendiert wurden, konnte man eine leidenschaftliche und manch Mythen aufrufende Debatte um europäische Politik und Gesellschaftsgeschichte erleben. Überdies ist es nicht nur die Justiz, die den polnischen Rechtsstaat aushebelte, es sind Gesetzespakete, die Frauen Reproduktionsrechte verweigern und eine gesellschaftliche Entwicklung, die sogenannte LGBTI-freie Zonen ausrief und damit Jagd auf queere Menschen weder bestraft noch unterbindet. Unser Fraktionsvorsitzender Martin Schirdewan antwortete u. a. in der Debatte mit scharfen Worten und verurteile ebenso, dass das Zögern der Kommission, den Rechtsstaatsmechanismus anzuwenden, ein Teil des Problems ist. Dass nur einen Tag später die Meldung die Runde machte, dass das Parlament sich diese Untätigkeit der Kommission nicht länger bieten lassen will und klagen wird, ist wahrlich Neuland. Doch ganz offensichtlich hat der Europäische Rat, der dann zum Wochenende hin tagte, die Botschaft schlicht überhört und tat das, was man offenbar am besten kann: Probleme einfach aussitzen.   

Wer tiefer ins Urteil des polnischen Verfassungsgerichts einsteigen will, kann eine rechtliche Bewertung beim Verfassungsblog finden und auch einen Vergleich zwischen polnischen und deutschen Urteilen der Verfassungsgerichte.

Kultur und Pandemie

Martina Michels am Eingang des Guggenheim-Museums in Bilbao | Foto: Konstanze Kriese

„Allen hat das Kino, die Livemusik, das Theater während der Pandemie gefehlt. Seit eineinhalb Jahren hängen viele Künstlerinnen und Künstler, Menschen hinter der Bühne und am Scheinwerfer in den Seilen oder suchten zum Überleben andere Jobs. Die Pandemie verstärkte jahrelange Probleme: es gibt  obwohl seit 2007 als Sozialstatut gefordert  keinen europäischen Mindeststandard für den Sozialschutz von Künstlerinnen und Künstlern…“ kommentiert Martina in ihrer Pressemeldung zum Bericht über die Situation von Künstlern und die kulturelle Erholung in der EU. Was bisher geschah? Ganz einfach. Schon im vergangenen Jahr forderten die Abgeordneten, dass mindestens zwei Prozent der Gelder für die Erholung aus den Pandemiefolgen für die Kulturproduzenten auszugeben sei. Doch das scheint nirgendwo der Fall, weshalb es an der Zeit ist, nicht nur diese aktuelle Forderung zu erneuern.

Medien im digitalen Zeitalter

Installation vor´m Europaparlament, das jedoch gerade in Strasbourg tagte, 20.1.2021 | Foto: Konstanze Kriese

Der Kulturbericht wurde, genau wie der Bericht zu den Medien, am späten Montagabend im Plenum vorgestellt. Er ist eine gute und kritische Problemsammlung und die Kommission plant immerhin einen Medienfreiheits-Act mit Gesetzeskraft noch in diesem Jahr. Martina war hier Schattenberichterstatterin und wird auch weiter konsequent die Medienpolitik in Europa verfolgen, denn die Unabhängigkeit der Medien ist nicht nur in Polen oder Ungarn unter Druck, auch in Deutschland haben Journalist:innen keine einfachen Arbeitsbedingungen, ob am Rande von Demonstrationen oder in großen Medienhäusern wie Springer. Darüberhinaus machen die großen Plattformen den traditionellen Medienanbietern das Leben schwer und dieser Teil ist im Bericht auch sehr ausführlich behandelt. Die großen Forderungskataloge sind zum Teil in anderen Gesetzespaketen enthalten, doch ein großer Wurf zum Schutz der Medienfreiheit und -pluralität steht noch immer aus.

Frontex weiter unter Druck

Frauen aus Afghanistan protestieren vorm Europaparlament, 19.10.2021 | Foto: Konstanze Kriese

Am 22. Oktober 2021 hatte die Organisation „Frag den Staat“ getwittert: „NEU: Nach dem Brand im Lager Moria auf Lesbos werden neue Lager für Geflüchtete auf den griechischen Inseln gebaut mit Stacheldraht, Ausgangsbeschränkungen, 24-Stunden-Überwachung.“ und seine neueste Recherche online gestellt, in der nachgewiesen wird, wie die EU sich an grundrechtlich nicht konformer Unterbringung von Geflüchteten beteiligt. Deshalb, und wegen der Untersuchungen, ob Frontex in die illegalen Pushbacks involviert ist, forderte unsere migrationspolitische Sprecherin, Cornelia Ernst, schon im Vorfeld der Haushaltsentlastungsabstimmung, Frontex nicht zu entlasten.

Dass dann letztlich der Europäische Rat erneut eine Lösung zur Migrations- und Asylpolitik am Wochenende aussaß, löst keines der globalen Probleme, die hinter Flucht und Migration stehen, von ungelösten globalen Konflikten bis zur Klimakrise, von Folgen der Pandemie und einer dauerhaft ungerechten Handelspolitik. „Asylrecht ist allgemeingültiges Menschenrecht. Wer innerhalb der EU und an ihren Außengrenzen Zäune und Mauern errichtet, bricht geltendes Menschenrecht. Damit offenbart die EU ihre ganze Bigotterie.“, kommentiert Martin Schirdewan den Handlungsstau. Obwohl das Parlament nun schon vor vier Jahren eine Überarbeitung der Dublin-Regeln vorgelegt hatte, gibt es keine Lösungen, die Migration, Asyl und Einwanderung wirklich regeln und menschenrechtlich absichern.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.