Martinas Woche – 42: Europaparlament tagt wieder online

Blick Richtung Platz Luxemburg vorm Europaparlamentsgebäude in Brüssel | Foto: Konstanze Kriese

Martina Michels, Konstanze Kriese

Regionalpolitik & Mehrjähriger Finanzrahmen – Veranstaltungs- und Lesetipp

Wir brauchen alle unsere Kraft für die kommenden Wochen, für die Vernunft eines ungewöhnlichen Zusammenhalts, der derzeit darin besteht, sich physisch aus dem Wege zu gehen. Trotzdem müssen wir die politischen Herausforderungen, die der ökonomische und gesellschaftliche Schock der Corona-Krise nach sich zieht, sowie die Langzeitherausforderungen, die den Klimawandel, eine gerechte Digitalisierung und vor allem den Kampf gegen Armut betreffen, zusammenbinden.

RKI Berlin | Foto: Konstanze Kriese

Der Oktober ist für das Europaparlament dabei generell einer der intensivsten Monate. Gleich in zwei Plenarwochen wird unter normalen Umständen viel gemeinsam beraten und auf den Weg gebracht. Doch die Pandemie rollt erneut durch Europa. Die Reise nach Strasbourg wurde zum wiederholten Male abgesagt, damit über tausende Parlamentarier*innen, Mitarbeiter*innen und Mitarbeiter nicht noch die östliche Region Frankreichs verunsichern, die alle Hände voll hat, die Krankenhäuser betriebsfähig zu halten. Auch der Bewegungsradius in Brüssel beschränkt sich wieder auf das Notwenigste, die Cafés und Bars haben einen Monat geschlossen. Viele Abgeordnete werden sich online zuschalten und auch erneut werden alle online im Plenum abstimmen.

Wir schauen also diesmal zuerst voraus in die neue Plenarwoche und berichten dann von Online-Veranstaltungen der vergangenen Woche innerhalb, aber auch außerhalb des Parlaments. Überdies haben wie diesmal einen exklusiven Lese-Tipp angesichts des Buchmesse-Schwerpunkts Kanada, bei dem u. a. die feministische Autorin Margaret Atwood mehrfach Interviewpartnerin war oder wie in dieser einstündigen ARTE-Dokumentation „Aus Worten entsteht die Macht“ ein Jahr lang begleitet wurde. (Verfügbar bis Januar 2021.)

Kommende Plenarwoche im Online-Modus

online arbeiten mit allen „Endgeräten“ gleichzeitig

Vom Digital Service Act, eine Art Grundgesetz für den Umgang mit Plattformen im digitalen Zeitalter, wie Netzpolitik.org schon im Juli erhellend erläuterte, bis zur Lage in der Bildung während der Corona-Krise, von Brexit bis zur nuklearen Abrüstung wurde das Plenum in der kommenden Woche vollgepackt. Auch wenn die Tagung in Brüssel stattfindet, geschieht dies weitestgehend online, denn nicht nur Brüssel ist eines der Risikogebiete innerhalb der zweiten Corona-Welle, auch viele andere Orte europaweit melden wieder Versorgungsprobleme in den Krankenhäusern ohne eine Stagnation der wachsenden Infektionszahlen zu sehen. Das Parlament tut sein Bestes, um seiner Verantwortung gerecht zu werden, hat die meisten Meetings in den Online-Modus versetzt, denn neben den Plenarsitzungen laufen die Verhandlungen zu allen Programmen des Mehrjährigen Finanzrahmens weiter, von Programmen für die Landwirtschaft bis zur Kultur. Und ganz „nebenbei“ schauen die Parlamentarierinnen und Parlamentarier auch auf die Entscheidungen des Europäischen Rates hinsichtlich des großen Corona-Rettungspaketes Next Generation EU von 750 Mrd. Euro, mit dem erstmalig eine politisch gewollte Schulden-Aufnahme im Euro-Raum verbunden ist, aber auch die Bindung aller Programme an die Rechtsstaatlichkeit der Mitgliedstaaten. Genau Letzteres entwickelt sich gerade wieder zum Problem europäischer Entscheidungsprozesse, wobei offen bleibt, wann die Länder mit den Corona-Hilfen rechnen können. 

Mehrjähriger Finanzrahmen (MFR) 2021-2027: Die Zeit wird knapp

Eigentlich soll am 1. Januar 2021 ein neuer Sieben-Jahres-Haushalt in Kraft treten, eine neue Förderperiode der EU-Strukturfonds beginnen und sollen auch neue zusätzliche Fördertöpfe endlich sprudeln. Doch seit Januar 2020 stockten die Verhandlungen, weil von den Regierungen der Mitgliedstaaten kein konstruktives Signal über Haushalts- und andere politische Kernfragen erkennbar war. Der Corona-Lockdown und die damit verbundene Krise tun ihr Übriges, ein Vorankommen zu erschweren. Seit September sind die Verhandlungen über die Strukturfonds zwischen Rat und Parlament immerhin wieder aufgenommen und am Ende der vergangenen Woche wurde im Regionalauschuss REGI eine Zwischenbilanz gezogen. Ein kurzer Bericht dazu folgt hier.

Europäische Bürgerinitiative zum Schutz von Minderheiten: eine Anhörung im Parlament

Anhörung zur Bürgerinitiative am 15.10.2020 | Screenshot von Konstanze Kriese

Über eine Million Menschen haben europaweit unterschrieben, dass die Minderheitenrechte in Europa besser geschützt werden müssen. Sie fordern dabei Autonomie und Gleichstellung in der Sprache, der Bildung, der Kultur und den Medien. Am Mittwoch fand im Europäischen Parlament eine Anhörung zur Bürgerinitiative statt, die drei Ausschüsse gemeinsam organisiert hatten, der Fischerei-Ausschuss (PETI), der Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten (LIBE) und der Kulturausschuss (CULT). Aus Deutschland waren u. a. Vertreter der friesischen und dänischen Minderheiten zu Gast, die einerseits darauf verwiesen, dass formal ihre Rechte gut geschützt und anerkannt sind, aber andererseits die Praxis der Garantie der Rechte täglich auf dem Prüfstand steht. Wesentlich dramatischer trifft es jedoch Minderheiten, die nicht in einem einzigen Staatsgebiet zu Hause sind, sondern tatsächlich europaweit ein Zuhause haben und brauchen, die Roma an erster Stelle. Hier ist nicht nur Nachholebedarf bei der Garantie der Rechte, sondern grundsätzlich auch der Kampf gegen Ausgrenzung und rassistische Hetze vonnöten. Nicht zum ersten Mal hat sich das Europaparlament damit auseinandergesetzt. Wer die Anhörung nachverfolgen will, kann dies hier tun. Für unsere Fraktion sprach Pernando Barrena.

Neue Online-Veranstaltungsreihe zur Zukunft Europas

Parlamentarier*innen protestieren gegen die Zustände in Moria und den neuen Lagern auf Lesbos | GUE/NGL Press-Unit

Gemeinsam mit der Rosa Luxemburg Stiftung fand am Freitag, d. 16. Oktober 2020, die Auftaktveranstaltung einer neuen Reihe zu Zukunftsdebatten europäischer Politik statt. Helmut Scholz, der Initiator der Reihe, und Cornelia Ernst standen als Politiker*innen Rede und Antwort. Die Büroleiterin der Dependance der Rosa Luxemburg in Athen, Marina Oshana, war ebenfalls zugeschaltet. Dokumentiert und mitorganisiert wurde der Auftakt vom Blog Die Zukunft EU und mit der ersten Debatte wurde einhellig festgehalten: „Beim Thema Asyl wird das Versagen der Europäischen Union seit Jahr und Tag am deutlichsten.“  Wichtig für die Debatte war daher auch die Mitdiskutantin Marie Naass von Sea Watch Berlin, die den neuen Asylpakt, den die Kommission am 23. September vorgeschlagen hat, als neue Stufe der rassistische Abschottungspolitik der EU klassifizierte. Die nächste Veranstaltung wird thematisch gleich eine der größten Fluchtursache der Klimakrise unter die Lupe nahmen und den Green New Deal der EU genauer unter die Lupe nehmen. Sie findet am 27. Oktober 2020 statt und ihr findet dann die Links sowohl bei uns als auch bei der RLS Brüssel in den sozialen Netzwerken.

Lesetipp: „Handmaid’s Reality“ oder Wie steht es um Frauenrechte während und nach der Corona-Krise?

Zeichnung zum Essay von Konstanze Kriese | Foto: Konstanze Kriese

In diesem Jahr war Kanada das Land, welches die Frankfurter Buchmusse in den Mittelpunkt ihrer vielen Online-Veranstaltungen stellte. Ganz indirekt haben wir diesen Fokus begrüßt, ist doch Konstanze Kriese eine Liebhaberin der Bücher und Verlautbarungen der Kanadischen Feministin und Autorin, Margaret Atwood. Am bekanntesten ist sicherlich ihr Dystopie „Geschichte einer Magd“, die einen faschistischen Staat in der Zukunft vor allem auch in seiner gewalthaltigen Bevölkerungspolitik skizziert. Was bedeutet es, Kontrolle über Frauen, deren reproduktiven Rechte auszuüben und wie sieht es damit in der Wirklichkeit und nicht zwischen zwei Buchdeckeln aus. Der erste Lockdown während der Corona-Krise veranlasste Konstanze Kriese dazu ein Essay zu schreiben, in dem u. a. auch die europäische Gleichstellungspolitik kurz beleuchtet wird. Aber Achtung: Weder haben wir derzeit die Ergebnisse der US-Wahlen, die unter anderem – gerade mit dem Tod von Ruth Bader Ginsburg – ein erneuter erbitterter Kampf gegen und für reproduktive Rechte von Frauen ist und wir schreiben auch noch nicht das Jahr 2021, was hier warnend, aber letztlich doch fiktiv „vorausgesagt“ wird. Es ist an uns, dass solche Entwicklungen sich nicht verfestigen und wir andererseits nicht naiv sein sollten, wie lang der Weg zur Gleichstellung von Frauen noch ist.  Letztlich sollte mit diesem Blick auch ein Maßstab quer durch alle Politikfelder erarbeitet werden, eine Fragestellung, die an alle Corona-Hilfspakete der Politik angelegt wird, ob sie die Bildung, die Jobs, die Verkehrsplanung, das Klima oder das Gesundheitswesen betreffen. Wie wirken sich Hilfspakete auf die Gleichstellung der Geschlechter aus, wenn uns die Rettung einer strukturkonservativen Autoindustrie heilig ist und für die Pflege nur der Beifall übrig bleibt?

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.