Martinas Woche 37 – 2021: Alle Jahre wieder – Die Lage der Union

Strassburg, September 2021 | Foto: Nora Schüttpelz

Martina Michels – Konstanze Kriese

EU Fit for 55 – Von der Leyen zur Lage der EU – Katastrophenschutz – Brexit-Reserve

„Unsere Union wird stärker sein, wenn sie mehr wie unsere nächste Generation wird: umsichtig, entschlossen, fürsorglich für andere. Verwurzelt in ihren Werten und kraftvoll in ihrem Handeln. Auf diesen Geist wird es in den nächsten zwölf Monaten mehr denn je ankommen.“, wird aus der Rede Ursula von der Leyens, der Präsidentin der Europäischen Kommission auf den Seiten der Kommission zitiert. Doch dies war kein Antrittsrede, die voll der großen Töne und Pläne gespickt wird. Der Mittwoch im Strassburger Plenarsaal begann mit einer schaumgebremsten Analyse und einer Aussicht auf ein Durchwursteln inmitten der von Corona verstärkten globalen Krise, die eben auch den sozialen Zusammenhalt und die wirtschaftliche Erholung der EU betrifft und nicht zuletzt deren Selbstverständnis in einer multipolaren Welt voller kriegerischer Konflikte. Das sichtbare Desaster des Westens und der NATO in Afghanistan, was auch gesondert am Dienstag im Plenum diskutiert wurde, scheint alles andere als eine Lehre für die politische Strategiebildung der EU zu sein. Unterstützung für militärische Einsätze häufen sich, der Ton gegenüber China wird rauer. Für die weltweite Flüchtlingskrise, die auch Folge des unbewältigten Klimawandels ist, gibt es bis heute kein tragfähiges Konzept.

Debatte zur Lage der EU, 15.9.2021 | Foto: Nora Schüttpelz

Fast verhuscht sprach Ursula von der Leyen einmal ganz kurz von „mehr Eigenmitteln“, die die EU bräuchte, um die ehrgeizigen Klimaziele auch nur annähernd zu stemmen. Doch die Wahlen in Deutschland stehen ins Haus. Da spricht man offensichtlich nicht so laut über unsinnige europäische Schuldenbremsen, von denen sowohl die Konservativen als auch manche Sozialdemokraten nicht die makroökonomischen Finger lassen können. Letztlich sind dies Investitionsbremsen in öko-soziale Umbauten, die keinen Tag länger warten können. Doch im kommenden Frühjahr wählt auch Frankreich, so das wir davon ausgehen können, dass die wichtigen Debatten und ernsthaften Schritte eines „Wie weiter mit der EU?“ noch weiter eingefroren sind. Also hörten die Abgeordneten sehr viele warme Worte von solidarité und Empathie und mehr globalem Engagement und konnten sich beinahe aussuchen, was wir darunter verstehen können. Legt man dann die Puzzleteile der realen Entscheidungen in der EU gegen die Patentfreigaben, für militärische Einsatzfreude, gegen einen gut ausgestatteten Katastrophenschutz, für eine verhaltene Kooperation mit China usw. aneinander, dann ist die Zukunftsfähigkeit der EU als politisches Projekt mit allerhand Fragezeichen versehen und produktive Antworten waren dagegen am Mittwoch ziemlich rar. Der kleiner Lichtblick in der Rede zur Lage der EU war ein ausstehendes Medienfreiheitsprogramm, überfällig und dringend.

Martin Schirdewan antwortet der Kommissionspräsidentin | Foto: Nora Schüttpelz

Naturkatastrophen in Europa

Martina Michels in der Plenardebatte, 14.9.2021 | Screenshot: Konstanze Kriese

„Niemand kann angesichts der verheerenden Überschwemmungen und Brände in diesem Sommer noch daran zweifeln, dass der Klimawandel auch Europa trifft. Ich finde es absolut richtig, dass das Europaparlament immer wieder höhere Emissionsziele und den raschen Ausstieg aus fossilen Energien fordert und sich der Klimaschutz mittlerweile durch alle Fachbereiche und Förder- und Finanzierungsmaßnahmen zieht. Wir können den Klimawandel aber nur bekämpfen, wenn die nationale Ebene und Europa zusammen handeln.“, begann Martinas Rede am Dienstagmorgen zur Plenardebatte „Naturkatastrophen in Europa“. Und entscheidend ist bei jedem Sofort-Hilfeprogramm, wie es rückgebunden wird an die Prävention und den Klimaschutz. Denn nicht funktionierende Warnsysteme verstärken im Notfall die Problemlagen und mehr Klimaschutz sollte endlich politischer Konsens sein.

Brexitreserve

„Unser neuer kleiner Brexit-Hilfsfonds ist für die am stärksten direkt vom Brexit Betroffenen in der EU eine wichtige konkrete Hilfe.“, so Martina Michels in ihrer Rede am Dienstag weit nach 22 Uhr. Doch sie ergänzte nach einer ganzen Palette von ungelösten Problemen: „Ich glaube nicht, dass er ausreichen wird…“ Viele Länder sind von den Problemlagen im Handel und der Mobilität, in der Landwirtschaft und der Fischerei, bei der Bildung und in der Kultur betroffen, insbesondere Belgien, Frankreich, die Niederlanden und Deutschland. Ohne Einsatz aus den EU-Strukturfonds werden die Risse nicht geschlossen, wird die Hilfe für Betroffene vom Brexit in der EU nicht ankommen.

Martin Schirdewan antwortet auf Ursula von der Leyen

Aussprache zur Lage der EU: Martin Schirdewan | Foto: Nora Schüttpelz

Das Handelsblatt zitierte munter unseren Fraktionsvorsitzenden nach Von der Leyens Rede mit: „Den vollmundigen Ankündigungen ihres Amtsantritts konnte sie bislang wenig inhaltliche Substanz verleihen.“ In seiner Rede betonte Martin Schirdewan, dass die 10 reichsten Milliardäre Europas ihr Vermögen während der Pandemie weiter vermehrt haben, während jedes fünfte Kind in der EU in Armut aufwächst oder von Armut bedroht ist. Die soziale Schieflage verlangt, genau wie die Klimakrise, mehr als die großen Ankündigungen, die die Kommissionspräsidentin immer wieder ausschmückt, ohne dass am Ende dahinter handfeste politische Projekte zu erkennen sind, mit denen die Herausforderungen nun wirklich angepackt werden. Zwar ist der „Corona“-Haushalt nicht der schlechteste, den die EU-Kommission bisher vorlegte, doch letztlich muss sein Rückgrat dauerhaft gestärkt werden und der Streit um die Sinnhaftigkeit mancher Ausgaben kommt wohl gerade erst in Gang.

Martina Michels in der Plenardebatte, 14.9.2021 | Screenshot: Konstanze Kriese

So fragte Özlem Demirel zurecht, ob denn eine Militärunion demnächst auch die Seele der EU ausdrücken soll, eine Vorstellung, die allen Gründungsideen dieses politischen Projektes stark zuwider läuft.

EU Fit for 55 – Wer zahlt für den Klimaschutz?

Schon im Regional- und Industrieausschuss gingen die Debatten hoch her, wird doch derzeit das neue Klimaschutz-Programm der EU, das die Kommission vorgelegt hat, im Europäischen Parlament verhandelt. Wir hatten darüber schon im Juli berichtet, als sich die Slowenische Ratspräsidentschaft in den Ausschüssen vorstellte. In der Plenardebatte nahm unsere energiepolitische Sprecherin, Cornelia Ernst, zum neuen Fonds Stellung und kritisierte„Konkrete Vorschläge im ‚Fit for 55‘-Paket beschränken sich bisher aber auf den vollkommen unzureichend ausgestatteten Sozial- und Klimafonds, der aus einem geringen Anteil des Emissionshandels für Gebäude und Verkehr finanziert werden soll. Hier besteht erheblicher Nachbesserungsbedarf. Der Fonds muss finanziell so ausgestattet sein, dass er die anstehenden sozialen Herausforderungen bewältigen und Energiearmut beenden kann.“ Klimaschutz kostet und kein Klimaschutz, weil er zum Beispiel nicht sozial gerecht verteilt wird, indem starke Schultern mehr tragen, als Menschen mit geringen Haushaltseinkommen, kosten uns am Ende mehr. Verfehlen wir die Klimaziele, dann kommt auch jedes „Reparatur-Programm“ zu spät. Prof. Maja Göpel, Expertin für Nachhaltigkeits- und Transformationsforschung, hatte kürzlich in einer Bundespressekonferenz dazu die passenden Worte gefunden, die sich jede Politikerin und jeder Politiker am besten immer erneut zum Tagesbeginn als Grundeinstimmung anhören sollte. Hier sind ihre mahnenden Worte nachhörbar (und es sind keine 60 Sekunden).

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.