Martinas Woche 29 – 2020: Hubschrauber über Brüssel

Photo by Rodrigo Mattoso from FreeImages

Martina Michels, Konstanze Kriese

Regional- und Kulturpolitik – Regierungsgipfel in Brüssel – Balkan: Wahlen in Nord-Mazedonien – Autofreie Innenstädte

Apple muss nun doch keine 13 Milliarden Euro Steuern nachzahlen. Die Nachforderung der EU-Kommission ist vor Gericht gescheitert. Damit wurden die von Irland gewährten Steuervergünstigungen für den US-Konzern nicht als ungerechtfertigte staatliche Beihilfe angesehen. Das ist frustrierend und zeigt, dass eine gerechte Besteuerung der großen Tech-Giganten in der EU weiterhin ungelöst ist und auf der Agenda steht. Doch dies ist bei weitem nicht das einzige brennende Problem in Brüssel. Während die Innenstädter*innen und wenigen Tourist*innen derzeit um ihren Nachschlaf gebracht werden, nach Mitternacht ganz unverfroren Hubschrauber stundenlang über Brüssel kreisen, tagt der Europäische Rat und versucht einmal mehr offenbar die Quadratur des Kreises, nämlich sich auf die Konditionen für die Corona-Hilfen zusammen mit dem anstehenden mehrjährigen Finanzrahmen 2021 – 2027 zu einigen. Was Freitag erledigt sein und hier in einem Bericht kommentiert werden sollte, dauert zur Stunde noch an: die Sitzung des Europäischen Rates, das Treffen der Regierungsvertreter*innen der Mitgliedsstaaten der EU. Wir berichten immerhin, wo es klemmt…

Molenbeek, Brüssel, 18. Juli 2020 | Foto: Konstanze Kriese

Neues Fenster geöffnet: EU-Beitritt der West-Balkanländer

„Für manche europäische Außenpolitiker ist der Balkan relevant, solange die Länder dort Flüchtlinge aufhalten und Arbeitskräfte für Pflegeheime und Schlachtfabriken stellen. Diese Wurstigkeit ist schädlich und unwürdig. Die jungen Menschen, die dieser Tage in der serbischen Hauptstadt Belgrad gegen die Repressionen ihrer Regierung demonstrieren, blicken hilfesuchend gen Brüssel. Ebenso jene, die im bulgarischen Sofia gegen Korruption aufbegehren. Dort zeigt sich jetzt, wie falsch es war, Länder voreilig in die EU aufzunehmen, ohne den Aufbau eines Rechtsstaats, der den Namen verdient. Genau so falsch aber ist es, den Ländern des westlichen Balkans, wo die Menschen auf Europa hoffen, keine Perspektiven zu bieten – und damit keine Anreize für Rechtsstaatlichkeit.“, schrieb Tobias Zick am Donnerstag in einem Kommentar zum erneuten Wahlsieg der Sozialdemokraten in Nordmazedonien. Nun ist der Aufnahmeprozess der südöstlichen Partnerschaft nicht allein eine Frage der Rechtsstaatlichkeit, auch wenn die EU, so scheint’s derzeit, über nichts anderes reden mag. Die große EU-Osterweiterung 2004 war eine Hoffnung, der es in der Folge dann gehörig an Tiefe fehlte und die heute ihre Risse und Spuren in der „Binnenpolitik“ der EU zeigt. So auch am Wochenende beim Gipfel, der erneut die Corona-Hilfspakete und den Mehrjährigen Finanzplan 2021 – 2027 zusammenschmieden soll. Es wäre fatal, wenn beides nicht genutzt wird: einmal die Chance des Beitritts der West-Balkanländer und die schnelle Verabschiedung der Corona-Hilfen durch die EU.   

Regionalpolitik: Covid19 verändert öffentlichen Nahverkehr in den Städten

Abend in Brüssel vorm Königspalast, 10.7.2019 | Foto: Konstanze Kriese

Immer mehr Menschen sind wegen Corona auf das Fahrrad umgestiegen. Sie erleben diese Entscheidung als gesundheitsfördernd und im gewissen Sinne auch stressfreier. „Das Coronavirus wird zum Katalysator von autofreien Innenstädten. … Um den Mindestabstand einzuhalten, werden Auto- zu Fahrradspuren und Fußwege breiter. In Wien und Berlin wurden aus Wohnstraßen Begegnungszonen. New York, Vancouver, Mexiko City und Budapest haben autofreie Nebenstraßen zugunsten des Fuß- und Radverkehrs eingerichtet. … Damit wird Corona zum Gamechanger einer neuen Mobilität in den Städten.“diagnostiziert Daniel Dettling am Mittwoch in der Welt. Diese Bestandsaufnahme hat bei der Struktur- und Regionalförderung in Städten enorme politische Bedeutung. Auch bisher hat die EU hier kräftig gefördert, doch noch nie waren die Entscheidungen für großzügige und sichere Radwege so deutlich in sich verändernde Mobilitätskonzepte eingebunden, die dem derzeitigen Umstieg auf das Fahrrad auf dem Fuße folgen werden. Das bedeutet am Ende nicht weniger öffentlicher Nahverkehr, sondern mehr Bedarfsgerechtigkeit, Familienfreundlichkeit, Sicherheit und das kann am Ende trotzdem ein Ausbau und zugleich ökologischer Umbau der derzeitigen Nahverkehrskonzepte in den Innenstädten sein.   

Die unendliche Geschichte? – Corona-Hilfen und Regierungsgipfel in Brüssel

An der Königlichen Bibliothek, Brüssel, 19. Juli 2020 | Foto: Konstanze Kriese

Zähes Verhandeln, Nervenkrieg, das sind beinahe noch die nettesten Kommentare zum Regierungsgipfel, der jetzt schon zwei Tage über seine geplante Zeit „nachsitzt“. Und trotzdem gibt es auch Kommentatoren wie Politikerinnen, die ein erneutes Scheitern nicht ausschließen. Nun geht es seit Mai um die Konditionen, unter denen die Corona-Hilfen ausgegeben werden sollen: Wieviel soll von den 750 Mrd. Euro Zuschuss, wieviel Kredit sein? Wird es eine Bildung ans Rechtsstaatsprinzipien geben, die Ungarn derzeit im Presserecht und der Medienfreiheit und Polen durch ihre Justizreform, die die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts infrage stellt, verletzt? Gibt es Ausstiegsklauseln? Der Vorstoß von Macron und Merkel, der auch Deutschland erstmalig an der Seite derer sieht, die eine gemeinsame Schuldenaufnahme nicht mehr verteufeln, hat die inzwischen „sparsamen Fünf“, Österreich, Schweden, Niederlande, Dänemark und Finnland verärgert. Andererseits „zicken“ Ungarn und Polen und sie werden erstaunlicherweise von Portugal und anderen unterstützt, dass die Hilfen nicht an Rechtsstaatskonformintät ihrer nationalen Gesetzgebungen geknüpft werden darf. Dazu kann man Ja und auch Nein sagen. Knüpft man derartige Fonds an eine Rechtsstaatsprüfung, so könnte man damit besonders die Regionen und Kommunen treffen und gerade nicht die Regierungen. Denen würde womöglich ein Stimmentzug im Europäischen Rat viel eher den Spiegel vorhalten. Und ja: Auch wir müssen derartige Strategien zu Ende diskutieren. Fakt ist, die Wogen schlagen hoch und die Leidtragenden sind immer die Projekte und kleinen Unternehmen vor Ort. Der Wirrwarr im Rat ist u. a. hier zusammengefasst. Und selbst die Bundesregierung, als Verantwortliche während der Europäischen Ratspräsidentschaft, gab heute Nachmittag noch eine gesonderte Information heraus. Im Interesse der Regionen sollte hier endlich jedes Land aufeinander zugehen.

Wegen des Regierungsgipfels mit seinem derzeit unklaren Ausgang ist in der kommenden Woche eine außerordentliche Plenartagung des Europaparlaments in Brüssel geplant.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.