Martinas Woche 27 – 2021: Zwischen Bruxelles, Berlin und Strasbourg

Snälltåget-Waggontür | Foto: Peter Cichorius

Martina Michels, Konstanze Kriese

Nachtzüge – Fokusgruppen des Europaparlaments – Neuer israelischer Botschafter bei der EU – Vernetzung Europäischer Festivals – Frontex-Tribunal – Vor der Plenartagung – Steuerschwund: eine Studie

Am Montagmorgen fuhr in Berlin der neu aufgelegte Nachzug aus Stockholm ein. Martina Michels, die sich mit Kolleginnen aus dem Europaparlament für Nachtzüge quer durch Europa seit 2019 verstärkt engagiert, war dabei. Am Nachmittag dann diskutierte Martina in der Fokusgruppe über interne Einrichtungen des Europaparlaments, wie es mit der Arbeitsorganisation mit und nach Corona weitergeht. Am Donnerstag hatte Martina gleich in zwei Konferenzen ganz unterschiedliche Aufgaben. Einmal sprach sie über Festivals nach der Corona-Zeit und einmal moderierte sie einen Teil einer sehr ungewöhnlichen Konferenz, die ein fiktives Tribunal gegen Frontex, der Grenzschutz-Agentur entwickelte. Mit Treffen für die kommende Abstimmungen in den Ausschüssen und der Vorbereitung der kommenden Plenarwoche entstanden nur wenige Lücken im Kalender, die aber nötig sind, um die letzte und zugleich zweite Woche seit langer Zeit wieder im französischen Strasbourg vorzubereiten. Dahin reist Martina dann am Montag zum Plenum. In unserem Plenarfokus findet ihr einige Debatten und Entscheidungen der kommenden Woche im Detail.

Interview mit RBB zu Nachtzug | Foto: Peter Cichorius

Ökologischer Meilenstein mit Einschränkungen: Nachtzug Snälltåget düst durch Europa

Martinas Woche begann mit einem „Großen Bahnhof“, genauer gesagt, mit dem Empfang des neuaufgelegten Nachtzuges Snälltåget, der am Montagmorgen, pünktlich um 8.52 Uhr, aus Schweden kommend, im Berliner Hauptbahnhof, auf Gleis 3, eintraf. Eine kleine Gruppe von Bahnaktivisten, -freunden, -politikern, -betreibern und Journalisten empfing die Nachtreisenden, die die Strecke Stockholm-Malmö-Kopenhagen-Hamburg-Berlin in gut 19 Stunden als Erste genossen haben. Gemeinsam mit vielen anderen Abgeordneten und Schienen-Überzeugten setzt sich Martina seit Jahren dafür ein, einerseits viel mehr Reisende vom Fliegen zurück zu einer wirtschaftlich und ökologisch sinnvolleren und ihr Netz stetig erweiternden Bahn zu bekommen und andererseits das Reisen durch die Wiedereinführung der Nachtzüge noch komfortabler zu machen. Ein Wermutstropfen ist bisher, dass sich vor allem nur kleinere private und ausländische Bahnbetreiber um die Wiedereinführung von Nachtlinien kümmern, da die Deutsche Bahn das Gros ihrer Bestände an Schlaf- und Liegewagen schon lange veräußert hat. Nicht hinnehmbar ist es aus Martinas Sicht, dass der neue Snälltåget mit seinen Uraltwaggons kaum Barrierefreiheit bietet und dadurch z. B. Rollstuhlfahrer nicht mitfahren können.

Fokusgruppen zur Arbeitsorganisation und Politikentwicklung im Europaparlament

Martina Michels | Screenshot: Konstanze Kriese

In Fokusgruppen treffen sich derzeit Abgeordnete, um gemeinsam mit dem sozialdemokratischen Parlamentspräsidenten David Sassoli, Lehren aus der Corona-Pandemie für die Organisation der politischen Arbeit des Europaparlaments zu ziehen. Martina Michels ist gemeinsam mit ihrer portugiesischen Kollegin Marisa Matias für die Fraktion The Left in der Fokusgruppe 5, die sich speziell mit der internen Arbeitsorganisation beschäftigt. Dabei geht es vom Online-Dolmetschen bis zum Online-Abstimmen, vom Homeoffice bis zur Organisation der Plenartagungen. Viele Abgeordnete wollen natürlich wieder physische Treffen, nicht nur im Wahlkreis, in ihren Mitgliedstaaten, auch in den Ausschüssen und im Plenum sollte es wieder mehr Austausch geben und damit auch mehr Wiederhall möglich sein, gerade wenn man im Plenum spricht. Doch noch immer sind diese Wünsche Zukunftsmusik. Um die Organisation der Arbeit weiter unter den Umständen der Corona-Pandemie zu bewältigen, wird jetzt auch nach Lerneffekten aus den Lockdowns gefragt, die auch das grenzüberschreitenden Arbeiten betreffen, und die vielleicht auch nach der Pandemie sinnvoll sind und Bestand haben könnten.

Doch wer einmal mehr als drei Videokonferenzen am Tag hinter sich hat, weiß, dass diese Art der Kommunikation kein Zuckerschlecken ist. Bei allen Vereinfachungen, welches das ständige Homeoffice so nebenbei mit sich bringt, wenn man nochmal den Kaffee aufsetzt und in seinen gemütlichen Hausschuhen durch die Wohnung geistert, um sich vor dem Bildschirm mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen: Am Ende eines solchen Arbeitstages ist man erschöpft. Dann fehlt manches auf jeden Fall: zum Beispiel der körperliche Ausgleich des Nachhausewegs auf dem Rad oder der Schwatz mit dem Kollegen beim Feierabendbier oder -wein. Diese Form von Ausgleich muss anderweitig gesucht, beinahe auch wieder organisiert werden. Kolleginnen und Kollegen, die überdies Kinder im Home-Schooling betreuen, haben keine einfachen Monate hinter sich. Ob Abgeordnete oder Kolleginnen und Kollegen, alle mussten viele technische Neuerungen erlernen und der sogenannte Workload schien sich nicht nur über die üblichen Geräte und Messenger-Gruppen zu entgrenzen. Die Arbeit war mitten in den persönlichen Räumen massiv präsent und brachte viele Lebensroutinen der Work-Life-Balance durcheinander. Viele der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter pendeln genauso wie die Abgeordneten. Alle hatten dabei ständig Tests, Einreiseformulare und Ehrenerklärungen auszufüllen und auch Arbeitsquarantänen in Serie ein- und auszuzuhalten. Diese Erfahrungen aufzuarbeiten ist sinnvoll, denn wir können alle davon ausgehen, dass einiges auch nach der Pandemie weitergenutzt wird, dann nicht mehr als Regel, aber als sinnvolle Ausnahme, zum Beispiel Hybrid-Veranstaltungen, Fernabstimmungen bei außergewöhnlichen Abwesenheiten u. ä. In den nächsten Wochen werden die Ergebnisse der Fokusgruppen als Empfehlungen an die Konferenz der Fraktionspräsident*innen und an die anderen EU-Institutionen zusammengefasst.

Verabschiedung des israelischen Botschafters bei der EU und NATO 

Verabschiedungsgruppe im EP | Foto: Nora Schüttpelz

Erstmals seit über einem Jahr konnte die parlamentarische Delegation für die Beziehungen mit Israel wieder in Präsenz tagen. Anlass war die turnusgemäße Verabschiedung des israelischen Botschafters bei der EU und NATO, S. E. Aharon Leshno-Yaar, der sein Land seit 2016 in Brüssel vertreten hat. Der Vorsitzende der EP-Delegation und der Botschafter erinnerten an die besonderen, wenn auch nicht immer konfliktfreien Beziehungen, die Israel und Europa verbinden. Beide bekräftigten den Wunsch, die Zusammenarbeit in Bereichen gemeinsamen Interesses, den Dialog und das Bemühen um gegenseitiges Verständnis auch in strittigen Fragen auszubauen. Der neuen Regierung in Israel und dem Außenminister Yair Lapid werden dahingehend große Hoffnungen entgegengebracht. Letzterer plane, noch vor der Sommerpause, auf Einladung des EU-Außenbeauftragtem Borrell an einem Ratstreffen der EU-Außenminister teilzunehmen.

Bereits seit einiger Zeit ist der Name des voraussichtlichen Nachfolgers des Botschafters bekannt. Haim Regev war bislang im israelischen Außenministerium Direktor der Abteilung für den Nahen Osten und den Friedensprozess. Im EP-Ausschuss stand darüber hinaus eine erste Anhörung des neu ernannten EU-Vertreters in Israel an. Es handelt sich um den bisherigen Botschafter Bulgariens in der EU, Dimiter Tzantchev.

Auch die parlamentarische Delegation der Knesset für die Beziehungen zum Europaparlament wird sich in Kürze neu konstituieren und dann selbstverständlich auch mit der europäischen Seite schnellstmöglich – online und hoffentlich auch persönlich – zusammentreffen.

Die Sitzung wurde live übertragen und die Aufzeichnung kann hier nachgesehen und -gehört werden.

Festivals in der Post-Covid-Zeit

n drei Panels wurde der Sinn einer Vernetzung Europäischer Festivals am vergangenen Donnerstag erörtert. Politikerinnen, Künstler, Kulturverwaltungen und Organisationen, wie Vertreterinnen der Europäischen Festival Association, des Europäischen Kulturtourismus-Netzwerks u. a. sprachen über die ideellen und kommerziellen Möglichkeiten von Festivals, deren Zusammenhang im Kulturaustausch, ihrer Bedeutung in der demokratischen Debatte in unserer Gesellschaft.

Europäische Festivals 2021 | Screenshot: Konstanze Kriese

Martina Michels hatte die Gelegenheit, gleich im ersten Panel ihre Position zu Festivals zu entwickeln und dabei auch Erfahrungen aus Berlin einfließen zu lassen. Wir dokumentieren hier ihre Rede, die sich vor allem der Sicherung öffentlicher Räume widmete und warum diese Orientierung auch Künstlerinnen und Künstlern nicht fremd ist. Hier ist überdies das Programm sowie die Aufzeichnung des Webinars zu finden.

Frontex-Tribunal – eine ungewöhnliche Konferenz

Özlem Demirel und Conny Ernst im EP | Foto: THE LEFT

Nur eine Stunde nach der Festival-Konferenz begann eine weitere interessante Veranstaltung der vergangenen Woche, bei der Martina einen Teil der Moderation übernommen hatte. Vor Monaten hatten Abgeordnete aus dem Europaparlament eine „Frontex Scrutiny Working Group“ gegründet, da sich Berichte mehrten, dass die Europäische Grenzschutz-Agentur sich massiv an unerträglichen Push Backs gegen Bootsflüchtlinge beteiligte, statt das zu tun, was menschenrechtlich und nach internationalem Recht angesagt wäre: die Seenotrettung zu unterstützen. Seither wird versucht, die Recherchen und politische Initiativen, die sich gegen diese Politik richten, zusammenzuführen, die Vorfälle aufzuklären und politische Konsequenzen zu ziehen. In einer Konferenz, die tatsächlich in der Form eines Tribunals mit Beweisnahme, Anklage, Verhandlung und Richter*innen-Entscheidung/Urteil angelegt war, trafen sich am Donnerstag am späten Nachmittag Vertreter*innen internationaler Organisationen. Cornelia Ernst, Mitglied im Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten (LIBE), hatte mit ihrem Büro und mit Kolleg*innen der Fraktion diese Aussprache organisiert.

Steueroase EU: Martin Schirdewan stellt neue Studie vor

„Das Erfolgsrezept multinationaler Großkonzernen, insbesondere der Big Tech, besteht nicht nur aus Kundenfreundlichkeit. Nein, Tech-Giganten wie Amazon, Facebook und Co. haben es gelernt, aus Steuertrickserei ein Geschäftsmodell zu machen. Mit ausgeklügelten Strategien verschieben sie jährlich Milliarden an Gewinnen am Fiskus vorbei in Steuersümpfe. Die Verluste für die öffentlichen Kassen sind enorm. Die Rechnung zahlt am Ende die Allgemeinheit. Bürger:innen und kleinere Unternehmen müssen mit Kürzungen in öffentlichen Dienstleistungen und einer vernachlässigten Infrastruktur dafür einbüßen.“, schreibt Martin Schirdewan und stellt zugleich vor: „In einer neuen brisanten Studie, welche ich im Rahmen meiner parlamentarischen Arbeit in Auftrage geben habe, wird der Profitverschiebung der Großkonzerne in der EU nun auf den Grund gegangen. Das Ausmaß ist überwältigend! 287 Milliarden EUR an Profiten werden im Jahr aus der EU gezogen, wodurch 50 Milliarden EUR an Steuereinnahmen verloren gehen.“

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.