Martinas Woche 26 – 2021: Von Fussball EM bis EU-Gipfel – Paint it queer!

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Martina Michels, Konstanze Kriese

UEFA – Queerpolitik – Miniplenum – Regionalpolitik – EU-Gipfel – Reproduktive Rechte – Bildung – Kultur

Falls noch immer jemand glaubt, dass es beim Kampf um Rechte queerer Menschen um skurrile Minderheiten ginge, die, aus einer Opferrolle heraus, sich ausschließlich mit ihren Diskriminierungserfahrungen beschäftigen und ansonsten politisch blind sind, der hat in dieser Woche ein Lehrstück geliefert bekommen, wie der Kampf um Minderheitenrechte die ganze europäische Idee herausfordert. Daraus ist nun nicht plötzlich das Verständnis gewachsen, dass soziale und Freiheitsrechte nicht gegeneinander stehen. Doch eine europäische Wertedebatte steht im Raum, die man nicht bei Russland mit A oder bei der Türkei mit B und bei Ungarn mit C beantworten kann. Einen binnenmarkt-fixierte EU, die nicht zu einer eigenen politischen Idee zurückfindet, die eine solidarische Zukunft eines weltoffenen Europas ermöglicht, wird weiter an ihren ungelösten Herausforderungen zerbrechen und zerbröseln. Es wäre Zeit, aus dem Brexit zu lernen, statt verdutzt zuzuschauen, wie osteuropäische Regierungen sich von aufklärerischen Ideen verabschieden, Demokratie mit Füßen treten, Frauen- und Minderheitenrechte schleifen. Nur kann man dem nicht mit Empörung begegnen, wenn man zum Beispiel in der Migrationspolitik selbst jeden ethischen Kompass im Mittelmeer versenkt hat. Die Europäische Ratstagung hat am Wochenende einen gefährlichen Scheideweg der EU klar sichtbar werden lassen, doch verabschiedet hat man sich unter Schock mit den üblichen kleinen und zum Teil falschen Lösungen.

Martina Michels war nach Brüssel zum Kultur- und Regionalausschuss und zum Miniplenum gereist. Entsprechung hart war die Woche getaktet. Der Kalender enthielt kaum eine Pause, so dass sogar in der Stunde vor der Rückreise nach Berlin, in der am Freitag die Europapolitischen Sprecher*innen tagten, sie in einem Meeting der Europäischen Linken zu Gast war, in dem es um Bildung nach der Pandemie ging. Und ganz langsam laufen jetzt auch schon die Vorbereitungen für die kommende Plenarwoche Anfang Juli, die zum zweiten Mal vom 5. bis 8. Juli 2021 wieder in Strasbourg stattfinden wird.

Verbot des Regenbogens: UEFA bricht eigene Regeln und…

Am Dienstag brannte Martina es dann doch unter den Nägeln, der UEFA mal ihre eigene Rechtspflegeordnung vor die Nase zu halten. Der Tag begann mit einer Anhörung im Sportausschuss und natürlich kam dort auch das wiederholt unmenschliche Management der UEFA zur Sprache. Der Gipfel war derzeit dann nur noch das Verbot, die Münchner Allianz-Arena beim Spiel Deutschland gegen Ungarn am Mittwochabend in den Regenbogenfarben erstrahlen zu lassen, obwohl dies – auch wenn dies die Medien seltsamerweise nicht aufgriffen – am Ende sogar gegen den eigenen schriftlich niedergelegten Wertekanon der UEFA geht und nichts mit politischer Provokation zu tun hat, wie die UEFA es einstufen wollte. Martina reagiert entsprechend scharf mit einer Pressemeldung.

… die Kommission und die europäischen Regierungschefs wachen endlich auf?

Doch dies alles sollte am Ende nur ein Vorspiel gewesen sein. Ungarn hatte am Dienstag ein queerfeindliches Gesetz verabschiedet, dass Information für Jugendliche über Homosexualität untersagt und überdies sexuelle Orientierungen der LGBTI-Communities mit Gewalt und Übergriffen gleichsetzt und kriminalisiert. „Eine Schande“ nannte Ursula von der Leyen das Gesetz am Freitag bei der Sitzung des Europäischen Rates. Erstmalig – und endlich – standen Grundrechtsverletzungen durch nationalstaatliche Gesetzgebungen, wie diese sich schon länger in einigen Mitgliedsstaaten der EU abzeichnen, im Fokus der Regierungsvertreter*innen in Brüssel.

Der Gipfel des Europäischen Rates gestaltete sich zu erbitterten Auseinandersetzungen um Grundrechte, um das Verhältnis zu Russland und auch um die Migrationspolitik. Und letztlich gehörte alles zusammen, was da auseinander trieb. Dagegen nahm sich zurecht die Einigkeit beim Impfzertifikat nur wie ein kleiner Wermutstropfen aus. Reinigende Gewitter sollten jedoch auch zu neuen Erkenntnissen und gemeinsamen Arbeitsweisen führen. Hier müssen wir die Gipfelergebnisse im einzelnen abwarten, doch das viele Verschieben, Taktieren und Aussitzen vieler Konflikte der europäischen Integration, vor allem seit der EU-Osterweiterung, hat die EU – auch nach dem Brexit – in eine tönerne Idee verwandelt, deren Lack ab ist und deren Substanz zu zerbrechen droht, wenn hier nicht Kooperation und Solidarität sowie die Einhaltung von Freiheitsrechten endlich im Mittelpunkt der Politik stehen, wenn aus der engen Binnenmarktfixierung endlich wieder die politische Idee der Wertegemeinschaft, die in Frieden zusammenleben will – auch mit allen Nachbarn – die Oberhand gewinnt.

Intermezzo mit einem sensationellen Bericht zur reproduktiven Gerechtigkeit im Parlament

Denn wir erleben nicht nur Ungarns queerfeindliche Gesetzgebung. Wir wissen um den Umgang mit Journalist*innen in Ungarn und Bulgarien oder dem Verfassungsgericht in Polen, und nicht nur dort. Auch die Verfolgung von Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen, die Verweigerung reproduktiver Rechte, wie in Polen, aber auch die verweigerte Versorgungssicherheit in vielen anderen europäischen Ländern stellen ein wachsendes Problem dar. Dies wurde u. a. erneut in einem Bericht des Parlaments aufgegriffen und es wurde, wie in den USA – man kann es angesichts der Realitäten kaum glauben – endlich das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch vom Parlament festgeschrieben. Denn das gibt es bisher in vielen Ländern, auch in Deutschland, nicht, wenn zumindest mit den Fristenregelungen schon Straffreiheit praktiziert wird. Zugleich wissen wir, dass Papier geduldig ist und Gesetze nicht zugleich die Versorgungssicherheit, die Aufklärung, selbst der Mediziner*innen verbessern. Unsere Fraktion äußerte sich zur erfolgreichen Abstimmung mit klaren Statements für die Rechte der Frauen auf straffreie Abtreibung. Denn der Weg ist noch lang, auch wenn im Europaparlament gegen die Widerstände vieler erzkonservativer Politiker*innen hier eine wichtige Abstimmung von allen progressiven Kräften gewonnen wurde. Die Pandemie hatte leider einen Rollback in der Lage vieler Frauen befördert, insofern ist die politische Stimme des Europaparlaments hier von besonderer Bedeutung. Mehr zum Bericht findet ihr hier.

… doch der Regierungsgipfel (24./25.Juni 2021) einigt sich am Ende nur beim Impfzertifikat und hofiert die Türkei  

Zurück zu den erbitterten Auseinandersetzungen auf der Ratstagung. War es nun ein Aufbruch, ein Erkenntnisgewinn, der irgendwie von der UEFA-Europameisterschaft im Fussball bis nach Brüssel zur Ratstagung schwappte? Wenn die Ergebnisse der Ratstagung am Ende wieder nur die Hofierung des Türstehers Erdoğans sind, dann liegen zwar seit diesem Wochenende alle Probleme mal wieder deutlich auf dem Tisch, aber die Lösungen sind erneut vertagt. Das verwundert uns nicht, so enttäuschend das ist. Martin Schirdewan hatte das schon vorab so kommentiert: „Viele Baustellen, keine Vision.“

Regionalpolitik: Das ganze Paket bis 2027 steht fast vor Abschluss

Martina Michels im EP-Plenum | Screenshot: Nora Schüttpelz

Mehr als drei Jahre wurde seit der Vorlage der Gesetzentwürfe für die Regional- und Strukturprogramme 2021 bis 2017 um Kompromisse gestritten. In der Zwischenzeit wurde ein neues Parlament gewählt und eine neue Kommission ist im Amt. Die Konzentration auf die Klimakrise und Digitalisierung zieht sich durch viele Programme. Der Brexit ist vollzogen. Und, last but not least, seit anderthalb Jahren haben wir eine Ausnahmesituation aufgrund der Corona-Krise. Die Kohäsionspolitik ist ein entscheidender Teil europäischer Investitionspolitik und unterliegt dem Ziel, dass sich die Regionen in Europa auf einem guten Niveau angleichen. Dass ein sozialen Ausgleich zwischen den Regionen stattfindet, hat nach den EU-Verträgen de facto Verfassungsrang. Das sollten wir nutzen und auch kontrollieren, damit die soziale Profilierung in den Programmen auch umgesetzt wird und nachhaltig Menschen an vielen Orten in Europa stärkt. Martina sprach am Mittwochnachmittag dazu auch in der Plenardebatte. Die Plenarrede und viele Details zur den Strukturfonds findet ihr in den aktuellen REGI-NEWS, die Nora Schüttpelz für uns zusammengestellt hat.

Gast bei der Europäischen Linken: Bildung nach der Pandemie

Martina Michels im Webinar, 24. Juni 2021 | Screenshot von der FB-Seite der EL

Martina war am Donnerstagabend zu einem Webinar bei der Partei der Europäischen Linken (EL) eingeladen und sollte dort als Europaabgeordnete vor allem etwas zur Reichweite europäischer Bildungspolitik sagen, und darüber hinaus natürlich, was während der Pandemie diskutiert wurde, damit die sichtbaren Probleme in den Mitgliedstaaten – insbesondere bei der digitalen Bildung – endlich nachhaltig bewältigt werden. Martina berichtete von aktuellen Positionierungen des Parlaments und einer Studie im Auftrag des Ausschusses für Kultur und Bildung. Ihren Input könnt ihr hier in Gänze nachlesen. 

Europapolitische Sprecher*innen trafen sich in Berlin

Martina in ihrem Büro in Brüssel, 24. Juni 2021 | Foto: Konstanze Kriese

Beim Online-Treffen der Europapolitischen Sprecher*innen am Freitagvormittag stand eine umfangreiche Tagesordnung auf dem Programm, galt es doch, die europapolitischen Schwerpunkte des frisch verabschiedeten Bundestagswahlprogramms auf ihre Umsetzung zu prüfen. Dies ist insofern schwer, da leider nur wenige neue oder erweiterte Akzente erkennbar sind und damit die Aufgabe, linke Europapolitik klarer, transparenter und erkennbarer zu gestalten, nach wie vor eine große Herausforderung darstellt. Erfolge sind immer wieder zu verzeichnen, z. B. durch die von der Fraktion THE LEFT stark forcierten Forderungen für eine vorübergehende Aussetzung der Patente für Corona­-Impfstoffe und nach dem Zurverfügungstellen von „Wissen und Daten“ der Impfhersteller über die WTO, die in einer mehrheitlich beschlossenen Entschließung mündeten. Das gilt ebenso für den mit übergroßer Mehrheit im Europarat abgestimmten Resolutionsentwurf des Aachener Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko mit dem Titel „Überwindung der durch die Covid-19-Pandemie ausgelösten sozioökonomischen Krise“, der u. a. fordert, „strategisch wichtige Wirtschaftssektoren für zukünftigen Wohlstand, Wohlergehen und soziale Gleichheit zurückzugewinnen.“

Neben der Vorstellung der ab September 2021 neuen Büroleiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel, Anna Schröder, berichtete Helmut Scholz in Sachen EU-Zukunftskonferenz von den holprigen Vorbereitungen in unzureichender Abstimmung zwischen Parlament, Rat und Kommission und wog Chancen und Risiken dieser Konferenz auf, in der es eben nicht nur darum geht, merkwürdig ausgewählten „Volksvertretern“ nur folgenlos zuzuhören, sondern auch die Europäischen Verträge genauer unter die Lupe zu nehmen, um hier z. B. die soziale Komponente in der europäischen Politik zu stärken.

Veranstaltungstipp: Festivals in der Post-Covid-Zeit – 1. Juli 2021, 14 Uhr, in Brüssel und im Netz

Die Überschrift mag vielleicht etwas verwundern, doch die zweistündige Veranstaltung ist ein spannender Ritt durch die Bedeutung performativer Events, historisch, politisch und in aktuellen Sondersituationen nach einem beinahe einjährigen Shutdown vieler analoger kultureller Begegnungen. 

Antike Themen und Helden könnten uns etwas zu heutigen Chancen im Kontext der digitalen und grünen Transformation und der New European Bauhaus Initiative erzählen. Wo? Vielleicht auf Festivals, denn diese leisten einen wichtigen Beitrag zur lokalen Wirtschaft und gelten als bewährte Verfahren für die Umsetzung der europäischen Kulturpolitik, als Treffen, die die kulturelle Vielfalt verdeutlichen und die Identität Europas stärken. Es soll in diesem Webinar tatsächlich um multidimensionale Vorteile gehen, die Festivals haben könnten, wenn sie von den antiken Erzählungen über Demokratie und Gerechtigkeit inspiriert sind, wenn Aischylos, Euripides und Sophokles ins 21. Jahrhundert getragen werden. So wie bei Heiner Müller, denn über Jahrhunderte hinweg war Europa ein Bezugspunkt für Künstler und Kunstgattungen, um Krisen zu überwinden.

Das Programm wird in Kürze veröffentlicht.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.