Martinas Woche 23 – 2023

Studientage in Malmö und Kopenhagen, Juni 2023 | Foto: Nora Schüttpelz

Abwehr vor Asyl – Europapolitik from hell

Studientage in Malmö und Kopenhagen – EU-Asylpolitik – LINKE trifft Entscheidung – Plenarfokus

Martina Michels, Konstanze Kriese

Während auf höchster Ebene noch diskutiert wird, ob die nächste Ratspräsidentschaft wirklich von Ungarn ausgerichtet werden soll und sich viele in der Debatte für mehr Widerstand gegen Orbáns Politik statt Ausgrenzung aussprechen, amtiert noch immer Schweden die derzeitige Ratspräsidentschaft. Dies war der Anlass, die Studientage der Fraktion in diesem Halbjahr in Schweden zu organisieren, weshalb Martina Michels und ihre Fraktionskolleg*innen dorthin am vergangenen Montag aufbrachen.

Der große europapolitische Scheinwerfer leuchtete derweil nach Luxemburg, wo sich am Donnerstag die Innenmister*innen der Mitgliedstaaten trafen, um den seit 2017 ausgesessenen Asylkompromiss, eine Revision der Dublin-Verordnung, gemeinsam zu verabschieden. Erstaunlicherweise gelang diese Einigung, doch der Preis ist de facto eine Abschaffung des individuellen Asylrechts, das nicht nach der Route der Flucht fragt und ausreichenden Beistand während eines Asylverfahrens gewährt.

Am Wochenende traf der Parteivorstand der LINKEN Beschlüsse, die auf eine Verantwortung aller Mitglieder für ihre Parteientwicklung zielen und erklärte damit die Unvereinbarkeit eines Mandats für DIE LINKE, wenn es genutzt wird, um gleichzeitig die Gründung eines konkurrierenden Parteiprojekts auszuloten. 

Am Montag werden sich die Abgeordneten in Straßburg treffen und wir schauen hier schon einmal in den Plenarfokus unserer Delegation in Brüssel.

Humanitäre Bankrotterklärung des Europäischen Rates: Asyl- und Migrationsgipfel in Luxemburg

Am 8. Juni 2023 trafen sich die Innenminister*innen der EU-Mitgliedstaaten und verkündeten tatsächlich nach 21 Uhr ihre Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS).

© Die LINKE im Europaparlament

„Das individuelle Recht auf Asyl war die zivilisatorische Konsequenz zweier Weltkriege, in denen Millionen Menschen fast nirgendwo Asyl fanden. Kommt die Reform nach Vorstellungen der Innenminister:innen, wäre dies eine Zäsur. Schutzsuchende werden per Gesetz massenhaft eingesperrt, festgehalten und kriminalisiert. Das ist zugleich ein Plädoyer für ein Europa der Zäune und Mauern, das eine Epoche des Rückschritts einleitet.“,

kommentierte Cornelia Ernst zum Auftakt des Innenminister*innen-Gipfels der EU-Mitgliedstaaten am vergangenen Donnerstag die Dramatik der politischen Entscheidungen. Nun sind sie gefällt und Deutschland hat selbst der Internierung von Familien mit Kindern zugestimmt. Kinder, die sorgloser als auf einer Flucht in die Schule gehen sollten, werden in Lagern festsitzen und statt des Rechts auf Asyl wird zuerst geprüft, ob man die Schutzsuchenden wieder abschieben kann. Länder wie Ungarn und Polen können sich herauskaufen, wenn sie sich an der Integration von Geflüchteten nicht beteiligen und noch die perfidesten Regelungen haben „hübsche“ Namen, wie „Solidaritätsmechanismus“ oder „einheitliche Aufnahmebedingungen“, denen ein Screenings vorausgeht, bekommen.

„Angesichts der Vorschläge macht es sprachlos, dass die deutsche Innenministerin Nancy Faeser bei Twitter diesen Ausverkauf der Menschenrechte als »historischen Erfolg« verkauft.“,

schreibt ProAsyl zu Recht. Zu den Behauptungen, dass syrische und afghanische Geflüchtete von den Vorprüfungen in den sogenannten „Grenzverfahren“ ausgenommen sind, schreibt Pro Asyl:

„Wer über einen angeblich sicheren Drittstaat kommt, wird unabhängig von den eigentlichen Fluchtgründen abgelehnt. Mit der Reform soll diese »Vorprüfung« stark ausgebaut werden. Denn weil die EU aktuell nicht von funktionierenden Demokratien mit guten Schutzsystemen umgeben ist, werden die Kriterien massiv gesenkt, damit unsichere Staaten für sicher erklärt werden können. Es müsste nun auch nicht mehr das ganze Land sicher sein, Teilgebiete sollen ausreichen können. Besonders dramatisch ist eine solche Zulässigkeitsprüfung in den Grenzverfahren, da in diesen Klagemöglichkeiten eingeschränkt sind und rechtliche Unterstützung nicht ausreichend vorhanden sein werden. So werden Abschiebungen in unsichere Drittstaaten und (Ketten-)Abschiebungen in die Verfolgung ins Herkunftsland möglich.“

Damit sind dann alle, die über die Türkei nach Griechenland kommen, egal ob sie aus Syrien, Afghanistan oder aus anderen Ländern kommen, gleichermaßen von den neuen Verfahren erfasst, in denen nicht zuerst der individuelle Asylgrund zur Anerkennung steht, sondern die Route, über die die Flüchtenden an die Grenze zur EU gelangt sind.

Studientage in Malmö und Kopenhagen

Studientage in Malmö, Juni 2023, im Stadtteilzentrum | Foto: Nora Schüttpelz

Am Montag brach die Fraktion The Left zu ihren halbjährlich stattfindenden Studientagen nach Schweden und Dänemark auf. Und natürlich spielte die Aushebelung des individuellen Rechts von Menschen auf Asyl eine Rolle in den Debatten. Insbesondere die Folgen für gesamtgesellschaftliche Diskurse, verbunden mit einem Erstarken der Rechten, der man mit dieser Asylpolitik einen Bärendienst erweist, war Teil der Diskussionen auf den Studientagen, an denen viele Vertreterinnen und Vertreter von NGOs und Initiativen zu Wort kamen. In Malmö besuchten die Abgeordneten ein Stadtteilprojekt, in dem sich vor allem junge Menschen um Bildungs- und Freizeitgestaltung für Kinder und Jugendliche aus sozial prekären Verhältnissen einsetzen, deren existentielle Versorgung eingeschlossen. „Hela Malmö“ bietet Mahlzeiten für die Kinder an, damit sie auch die nötige Energie haben, um die Welt zu entdecken. Der Verein steht in Kontakt mit vergleichbaren Projekten europaweit und erreicht damit auch, den Austausch unter Jugendlichen zu organisieren. „Das Kiezzentrum bietet Halt, Sport, eine Bibliothek, gesundes Essen, soziales Eingebundensein, sogar Unterrichtsräume der Uni sind hier zu finden.“, schrieb Nora Schüttpelz begeistert nach dem Besuch in Malmös sozialen Brennpunkten.

Studientage in Malmo und Kopenhagen, Juni 2023, Museum für Arbeit | Foto: Nora Schüttpelz

Zuvor informierte Nora, die Martina bei den Studientagen begleitete, über den erhellenden Besuch des Arbeitermuseums in Kopenhagen, das den „Blick in unsere europäische Geschichte der Organisation der Arbeiterklasse und der Entstehung der Sozialistischen Bewegungen und Parteien“ in Erinnerung brachte. Schon zu Beginn der Studientage lagen die vielen offenen Fragen auf dem Tisch: „Wie verhindern wir Sozialdumping?“ In der Debatte mit dänischen Gewerkschafter*innen wurde einmal mehr deutlich, dass besonders oft Arbeiter*innen mit migrantischem Hintergrund betroffen sind, wenn Löhne und soziale Standards unterlaufen werden. Diese Fakten zum Hintergrund für Minderheitenpolitiken verklären zu wollen, ist ein strategischer Fehler in allen Arbeitskämpfen. Arbeitsmarktliche Grauzonen und prekäre Beschäftigung drücken immer auf das Lohnniveau aller Beschäftigten. Dänische Linke in der Kopenhagener Regierung gehen deshalb konsequent gegen die Ausbeutung insbesondere rumänischer Arbeiter*innen vor, die in der Stadt in Bauprojekten beschäftigt sind.

Der Austausch bei den Studientagen ist immer ein Treffen über den Tag hinaus und natürlich wurde mit Blick auf die Europawahlen 2024 diskutiert, wie bitter notwendig eine geeinte Linke in Europa wäre.

Schwierige und nötige Entscheidungen im Parteivorstand der LINKEN

„Die Zukunft der Linken ist eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht.“ heißt es in einem Beschluss des Parteivorstandes vom 10. Juni 2023. Normalerweise berichten wir hier aus der Arbeit der Fraktion in Brüssel und vor allem rund um die Schwerpunkte von Martina Michels und manchmal auch ihrer Delegationskolleg*innen in Brüssel und weniger über die seit langem schwierigen Entwicklungen der Partei DIE LINKE.

Plenarsaal im EP in Brüssel, 26.5.2023 | Foto: Jörg Bochmann

Doch mit einem einstimmigen Beschluss an diesem Wochenende wurden Weichen für die Partei gestellt, die auch alle linken Mandatsträger*innen in den Fraktionen und die Einzelkämpfer*innen in Kommunal- und Regionalparlamenten beschäftigen werden. Zumal genau in einem Jahr Europawahlen stattfinden werden, im Umfeld von acht Kommunalwahlen in Bundesländern in Deutschland. Und schon in diesem Jahr wird in Hessen und Bayern ein neuer Landtag gewählt. Dafür den Kopf und alle Kräfte freizubekommen, wohin die Reise mit der LINKEN geht, heißt auch, Mandatsträger*innen, die ein konkurrierendes Parteiprojekt ausloten, klare Ansagen zu machen. Dies ist an diesem Wochenende geschehen und wurde in einer Pressekonferenz klar mit der Forderung versehen, so fair zu sein, dass diejenigen Mandatsträger*innen insbesondere der Bundestagsfraktion, die sich aktiv in den Aufbau eines konkurrierenden Parteiprojekts einbringen, ihr Mandat zurückgeben, dass die Partei DIE LINKE für sie erkämpft hat und das sie ausfüllen sollten, weil Wählerinnen und Wähler ein Kreuz bei der LINKEN gemacht hatten. Im Beschluss und in der Pressekonferenz wird klar darauf eingegangen, wie DIE LINKE ihre  Oppositionsrolle versteht, wo sie Fehler gemacht hat und welche Herausforderungen vor uns sowohl europapolitisch, bundespolitisch als auch vor Ort stehen. Dabei stehen im Mittelpunkt der sozial-ökologische Umbau mit einer strengen Umverteilungspolitik, die Verteidigung der Demokratie und eine Politik für eine widerstandsfähige öffentliche Daseinsvorsorge. Vordergründig sind dabei Energie- und Mobilitätsarmut wirksam zu bekämpfen, Wohnen und Gesundheit aus der Profitmaximierung zu reißen und mehr Bildung und Kulturaustausch muss endlich der Raum gewährt werden, der für eine streitbare Zukunft gebraucht wird. Mit zum Teil heftigen Reaktionen und Unverständnis wurde bisher zumeist auf Twitter unter Genossinnen und Genossen reagiert, die Sahra Wagenknechts politischen Ideen nahe stehen, ohne sich zum eigentlich Faktum einer schwelenden konkurrierenden Parteigründung und dem Umgang damit zu äußern. Diese Klärungsprozesse können wahrlich nicht länger ignoriert werden, wenn wir alle wollen, dass das Politikmachen der LINKEN wieder im Mittelpunkt unserer Anstrengungen und auch der Wahrnehmung bei Sympathisant*innen und potentiellen Wähler*innen steht.

Plenarfokus für die Sitzung des Europaparlaments von 12. bis 15. Juni 2023

Der Krieg in der Ukraine nach der Zerstörung des Kachowka-Damms, Künstliche Intelligenz, Überwachung, eine verbesserte Europäische Bürgerinitiative – vieles steht in der kommenden Woche auf der Agenda der Juni-Sitzung des Europaparlaments. Wer die gesamte Tagesordnung nachlesen möchte, schaut hier nach und wer fokussiert die Positionen unserer Abgeordneten zu einzelnen Themen lesen will, schaut in unseren Plenarfokus.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.