Martinas Woche 13 – 2021: Deutschland blockiert sich und die EU-Corona-Hilfen

Foto: Konstanze Kriese

Martina Michels, Konstanze Kriese

Europäischer Impfpass – Digitale Bildung – Regional- und Energiepolitik – EU-Türkei-Beziehungen – Deutschland und die EU-Corona-Hilfen – Ostersegen 2021

Feleknas Uca war gemeinsam mit dem Vorsitzenden Mithat Sancar, HDP zu Gast in unserer Fraktionssitzung am 25. März 2021 | Screenshot: Konstanze Kriese

Im Suez-Kanal ist alles dicht. Weltweite Lieferketten werden diesmal nicht von der Pandemie, sondern vom Containerschiff „Ever Given“ unter japanischer Flagge ausgebremst. Deutschland stochert bei der eigenen Pandemie-Bekämpfung im Nebel und Belgien entscheidet gerade über den nächsten harten Lockdown. Das heißt in Belgien nicht, dass jede Region machen kann, was sie will, sondern sie setzen Ausgangsperren, Schulschließungen, Teststrategien um, impfen rund um die Uhr, helfen – ähnlich wie in den deutschen Grenzregionen – Frankreich mit Intensivbetten aus. Das Ertragen des Unvermeidlichen belastet natürlich auch in Belgien alle Menschen. Trotzdem wurde Brüssel in der vergangenen Woche wieder zur politischen Drehscheide der Europapolitik, denn es tagte nicht nur das Europaparlament am Mittwoch und Donnerstag im sogenannten Mini-Plenum, sondern ihm folgten die Regierungschefs aller 27 Mitgliedstaaten. Auf deren Programm stand nicht nur der sogenannte Impfpass im Rahmen des Umgangs mit der Corona-Pandemie, sondern u. a. auch das Verhältnis zur Türkei. Doch für den europapolitischen Paukenschlag der Woche sorgte das Bundesverfassungsgericht am Freitagnachmittag, indem es die Zustimmung zur Schuldenaufnahme im Rahmen der Recovery-Fonds der EU, dem am Vormittag zuvor der Bundesrat zugestimmt hatte, vorerst verweigerte.

Bundesverfassungsgericht verhindert vorerst EU-Corona-Hilfen

„Um diese Summe (für die Corona-Hilfen  die Redaktion) zu finanzieren, ging die EU neue Wege: Der sogenannte Eigenmittelbeschluss sieht vor, dass die EU-Kommission im Namen der Union Schulden am Kapitalmarkt aufnehmen soll. Bis zu 750 Milliarden Euro sollen so in die Kassen gespült werden – also der Betrag, der für die Corona-Hilfen vorgesehen ist. Zurückgezahlt werden soll das Geld dann bis zum Ende der Haushaltsperiode.“kommentierten Journalist*innen des Südwestfunks für die Tagesschau, und erläuterten die Intention der Antragsteller um den Ex-AfD Mitbegründer Bernd Lucke. „Die Kläger wollen, dass statt der EU die Mitgliedstaaten in eigener Verantwortung Schulden aufnehmen, um die Folgen der Corona-Pandemie in den Griff zu kriegen. Denn wer die Gelder anderer Staaten ausgeben dürfe, neige zu ‚Verschwendung, Ineffizienz und Über-Inanspruchnahme‘. Das führe letztlich zu einer Vergemeinschaftung der Schulden, also einer ‚Schuldenunion‘.“ Da sind sie wieder, die nationalökonomischen Wirtschaftsprofessoren, die ihre Schuldenphobie gern vor einem wissenschaftlichen Erkenntnishorizont ausbreiten. Heraus kommt die alte hässliche Fratze eines sehr instrumentellen Verhältnisses zur EU, die so lange von Deutschland genutzt wird, wie es Krisengewinner ist und dann eine Entsolidarisierung inmitten einer Pandemie vom Zaune bricht, wenn es darum geht, gemeinsam aus der Krise zu kommen. Mit dieser Strategie würden die Staaten bei der ohnehin notwendigen Schuldenaufnahme wieder gegeneinander wetten, statt ihre Handelsbilanzen Schritt für Schritt weiter anzugleichen und gemeinsam die EU als politisches Projekt ernst zu nehmen.  Das gelingt nur, wenn es die Wohlfahrt aller, den sozialen Ausgleich wirklich bewältigt. Bei Lucke & Co. hört man schon wieder den deutschen Chauvinismus, der uns auch nach der Finanzkrise begegnet ist und durchaus seine Aktie an einer tief erschütterten EU, einschließlich des Brexits bis heute hat. Eines hat sich allerdings geändert gegenüber den Zeiten von 2007/2008: Einerseits ist der Tonfall innerhalb Deutschlands schriller, andererseits gab und gibt es den zaghaften Vorstoß zum gemeinsamen Schuldenaufnehmen in der mühselig errungenen europäischen Lösung des Corona-Erholungs-Fonds, wenn auch nicht über die EZB, so doch über den EU-Haushalt, der immerhin demokratisch kontrolliert wird. Hoffen wir, dass dieser Krimi eine Miniserie, ein kurzes Intermezzo, bleibt. Deutschland ist damit derzeit ohnehin nicht das einzige Land, dass die EU-Corona-Hilfen noch nicht ratifiziert hat.

Regionalpolitik: Von Kohle-Regionen über den Rechtsstaatsmechanismus bis zum Brexit-Ausgleich

Ein ganzes Bündel regionalpolitischer Details kam in der letzten Woche durch beantwortete kleine Anfragen an die Kommission, durch Entscheidungen des Ausschusses, Veranstaltungen und Interviews sowie Entscheidungen im Plenum zustande. Auch da standen die EU-Corona-Hilfen in mehrfacher Weise im Fokus, denn die Regionen wollen mehr mitentscheiden, endlich planen und brauchen mehr Transparenz auch in der Umsetzung. In einer neuen Ausgabe der Regi-News fassen Martina Michels und Nora Schüttpelz die politischen Entscheidungen zusammen und dokumentieren u. a. Martina im Podcast beim europa.blog.eu. Martina wurde von Jürgen Klute zu einer Studie interviewt, in der u. a. geklärt wird, wie die EU-Hilfen in den Kommunen ankommen.

Europaparlament nimmt kritischen Bericht zur Digitalen Bildung an

Wir haben schon einmal darüber berichtet, zu einer Zeit als die Debatte im Kulturausschuss noch heiß herging, doch in der vergangenen Woche war es dann soweit: Zum zweiten Mal mahnt das Europaparlament die erheblichen Fehlstellen bei der digitalen Bildung an. Dieses Mal, im unterschied zu 2018, ist der Bericht noch wesentlich umfangreicher und listet auch analytisch einiges auf, was allein auf den politischen Handlungsbedarf verweist. Wenn wir uns vergegenwärtigen, „dass 42 Prozent der Europäer noch nicht einmal über grundlegende digitale Fähigkeiten verfügen, mit erheblichen Unterschieden innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten und basierend auf dem sozioökonomischen Status, dem Alter, dem Geschlecht, dem Einkommen, dem Bildungsniveau und der Beschäftigung“, dann ahnen wir, dass es viele gesellschaftliche Versäumnisse gibt. Im besten Falle klappte während Corona das Home-Schooling, wenn auch trotzdem zumeist auf Kosten der Eltern, und dabei besonders der Mütter. Doch auch zwischen den Generationen gibt es erhebliche Unterschiede, weil „nur 35 Prozent der 55- bis 74-Jährigen über grundlegende digitale Fähigkeiten verfügen, verglichen mit 82 Prozent der 16- bis 24-Jährigen, wodurch ältere Menschen anfälliger für digitale Ausgrenzung werden.“ Digitale Bildung ist also nicht nur ein Thema für Schulen, sondern es geht um Internetkompetenz, um die Beendigung von geschlechtsbezogenen Stereotypen von der Programmierung bis zu Inhalten im Netz. Und noch einen Schritt weiter: Es geht darum, Diskriminierung und auch Gewalt im Netz zu verhindern. Von der digitalen Infrastruktur bis zur Künstlichen Intelligenz brauchen wir daher einen gesellschaftspolitischen Ansatz – auch in der Bildungspolitik. In einer Pressemeldung fasste Martina die Ergebnisse des Berichtes kurz zusammen.

Plenum debattierte die Europäische Impfstrategie, den Impfpass & die Vorbereitung der Sitzung des Europäischen Rates, insbesondere das Verhältnis zur Türkei

MdEP Martina Michels | Foto: THE LEFT

Es war mal wieder so eine Woche, in der natürlich ganz viele Themen auf der politischen Agenda standen. Aber eines erregte den sogenannten Clicktivsm, eine Aktionsform von NGOs und Initiativen, die oftmals bei einem einzigen Thema punkten, und zwar, indem sie Menschen aufforderten, ihren Abgeordneten im Europaparlament dazu eine Mail zu schicken. Das ist legitim, auch wenn es die Arbeit in einer Plenarwoche manchmal arg behindert, wenn im Sekundentakt Sammelmails eingehen, die man weder alle beantworten kann, noch einfach aussortiert. Mal ist es die Sommerzeit, in der wir ja auch gerade wieder angekommen sind, mal sind es Agrar-Subventionen. In der vergangenen Woche konnte man offenbar öfter auf Kampagnen-Websites den Button drücken, indem man seinen Unmut über das Vorpreschen der EU-Kommission ausdrücken konnte, die ein Dringlichkeitsverfahren beantragt hatte, um über den grünen Impfpass abzustimmen, der Menschen europaweit das Reisen ab Sommer ermöglichen soll. Es geht bei der Abstimmung im Europaparlament nicht um die Ausgestaltung, das Für oder das Wieder für solch einen Impfpass, ob er diskriminiert oder den Datenschutz verletzt, sondern es ging in der Abstimmung in dieser Woche, einzig um das Verfahren. Unsere Fraktion entschied sich für ein sogenanntes beschleunigtes Verfahren, indem auf jeden Fall die entsprechenden Ausschüsse eine aktive Rolle beim politischen Beschluss spielen. Doch das Parlament entschied sich mehrheitlich für die sogenannte „Take it or leave it“-Methode, die die Kommission beantragt hatte, bei der das Parlament nur noch – voraussichtlich im Juni – dem Vorschlag der Kommission zustimmen oder seine Zustimmung verweigern kann. Die Debatte um den Impfpass wird dies jedoch nicht ändern. Diese wird jetzt geführt.

Zugleich geht es insgesamt um die Europäische Impfstrategie, denn nicht nur Deutschland impft im Schneckentempo. Letztlich ist das alles kein Europäisches Problem allein, denn es wird kaum etwas nützen, wenn der Impfschutz nur in einigen Weltregionen gegeben ist. Damit lässt sich keine Pandemie wirklich eindämmen. In seiner Rede zur Vorbereitung auf den Ratsgipfel verband Martin Schirdewan die Themen durch den Titel: Waffenexportstopp – und meinte hiermit insbesondere die Türkei – statt einen Exportstopp für Impfstoffe. Hier könnt ihr sie leicht gekürzt nachlesen.

In der Debatte ergriff auf Özlem Demirel das Wort und verwies auf die übliche Politik der Doppelstandards, wenn es um Menschenrechte geht, mit Blick auf die Bestrebungen, die HDP in der Türkei zu verbieten und weiteren hochrangigen Politikern der Oppositionspartei die Immunität zu entziehen, sowie Menschen, die die Politik Erdoğan nicht unterstützen, massiv zu verfolgen. Der Gipfel selbst hat dann die schlimmsten Befürchtungen der EU-Appeasement-Politik gegenüber der Türkei noch übertroffen. Um den Flüchtlings-Deal von 2016 noch zu verlängern, wurden wieder eine Revision der Zollunion und Visa-Erleichterung diskutiert, statt sich endlich klar gegen die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zu äußern und die Hausaufgaben bei einer Europäischen Asylpolitik zu machen, die sich an das Recht auf Asyl hält statt es fortgesetzt außer Kraft zu setzen.

Unsere Fraktion hatte am Donnerstag in einer außerordentlichen Sitzung den Fraktionsvorsitzenden der HDP, Mithat Sancar und Feleknas Uca (siehe Foto zum Auftakt), früher selbst Europaparlamentarierin für die LINKE, heute verantwortlich für die internationalen Beziehungen der HDP, eingeladen. Sie berichteten umfänglich über die wachsende Repressionen gegenüber der politischen Opposition und forderten daher auch vom Regierungs-Gipfel klare Worte zur menschenrechtlichen Lage in der Türkei.

Ostersegen 2021

Foto: Konstanze Kriese

Schon vor einem Jahr erteilte der Papst den Ostersegen im leeren Petersdom: „Diese Zeit erlaube weder Gleichgültigkeit noch Egoismus, Spaltungen oder ein Vergessen anderer Notlagen“, sagte Franziskus. Unter anderem erinnerte er an Migranten und Flüchtlinge. Viele lebten ‚unter unerträglichen Bedingungen, besonders in Libyen und an der griechisch-türkischen Grenze‘ sowie auf Lesbos. Europa ermahnte der Papst zu einem ‚spürbaren Geist der Solidarität‘. Die Union stehe vor ‚einer epochalen Herausforderung, von der nicht nur ihre Zukunft, sondern die der ganzen Welt abhängt‘. Ausdrücklich verlangte das Kirchenoberhaupt einen Schuldenerlass für arme Länder und eine Lockerung internationaler Sanktionen. Konkrete Beispiele nannte er nicht…“, schrieb das domradio.de am 12. April 2020.

Man könnte es wie mit mancher Neujahrsansprachen tun und diesen Teil 2021 einfach noch einmal wiederholen. Denn Vieles ist im vergangenen Jahr politisch auf der Strecke geblieben. Eine politisch handlungsfähige EU sieht ganz sicher anders aus, auch wenn sie schon mal am unsinnigen Stabilitäts- und Wachstumspakt ein wenig gekratzt hat.

Doch weder das brennende Moria, noch die Pandemie hat politisch Verantwortliche wirklich wachgerüttelt, europäische Werte mit Leben zu erfüllen, soziale Wohlfahrt und demokratische Mitbestimmung endlich groß zu schreiben. Trotzdem gibt es viele solidarische Projekte, die von Bürgerinnen und Bürgern selbst angeschoben und eingefordert werden. Daran werden wir festhalten, wenn wir NGOs auf Lesbos mit Spenden unterstützen oder die Lage der Kulturproduzenten genauer unter die Lupe nehmen. Wenn wir fragen, was an EU-Geldern in den Kommunen ankommt und wenn uns nicht egal ist, wie Journalistinnen und Journalisten, ob in der Türkei, in Ungarn oder Malta, in Belarus oder hierzulande arbeiten, wenn wir die HDP unterstützen oder für eine Digitalsteuer und einen gerechten Übergang ins solare Zeitalter eintreten.

Wir wünschen euch allen ein friedliches Osterfest, bleibt gesund, helft euren Nachbarn, geht spazieren und mischt euch politisch ein – mit Abstand und Distanz derzeit – aber nachhaltig!

(Nach einer kleinen Osterpause sind wir wieder mit News und Informationen aus Brüssel für Euch da.)

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.