Martinas Woche 11 – 2023

Die Euriopabrücke zwischen Kehl und Straßburg | Foto: Konstanze Kriese

Eiertanz der EU rund um die globalen Transformationen

Ratsgipfel und Plenum – Reform des Strommarktdesigns – Israel – Seenotrettung – Mindesteinkommen – Net-Zero Industry Act – Kritische Rohstoffe – EU-Datengesetz – Trauer- und Gedenkfeier für Hans Modrow

Martina Michels, Konstanze Kriese

Im Straßburg treffen sich die Abgeordneten zur regulären Plenartagung. Während sie im Gebäude des Europaparlaments tagten, gingen in Frankreich viele Menschen wegen der Herabsetzung des Rentenalters auf die Straße. Die anhaltenden Proteste – auch in Straßburg – sind beeindruckend, wehren sich doch die Menschen in Frankreich gegen die Aufweichung des Renteneintrittsalters mit 62 Jahren, während in Deutschland kaum Widerstand gegen die Rente mit 67 stattfand. Die Protestierenden sind darüber hinaus gegen eine Entdemokratisierung der französischen Politik auf der Straße, denn Macron will diese Reform ohne parlamentarische Entscheidung per Dekret durchsetzen. Das ist letztendlich mehr als nur ein Angriff auf die Lebensarbeitszeit vieler Beschäftigter.

In diversen Debatten der Plenartagung mischte sich einmal mehr der Krieg in der Ukraine, verbunden mit drängenderen Nachfragen, warum es keinerlei erfolgreiche Ansätze für Verhandlungen gibt. Die Kommission verweist hier auf diverse gescheiterte Verhandlungsversuche durch die internationale Staatengemeinschaft, was insofern verwundert, weil Selenskyj beispielsweise dem chinesischen Friedensplan durchaus eine Chance geben wollte. Durch die Kommission werden daher im Wesentlichen zur Zeit schnelle Waffenlieferungen favorisiert, um der Ukraine bei der Verteidigung zu helfen, doch konkrete Verhandlungsangebote werden nicht zur Debatte gestellt. Das ist nicht nur hinsichtlich der Gefahren eines zermürbenden Abnutzungskrieges und den schwelenden Eskalationsmöglichkeiten eine gravierende Fehlstelle der europäischen Diplomatie, es ist auch klima- und friedenspolitisch unverantwortlich, hier weiter ohne Lösungsansatz zur Beendigung des Krieges auf der politischen Bühne zu agieren. Es ist ohne Zweifel richtig, auf eine starke Verhandlungsposition der Ukraine zu setzen, auf die Sicherung der territorialen Integrität und der Anerkennung ihres Selbstverteidigungsrechts, aber nach der erneuten Abstimmung in der UNO gegen den verbrecherischen Krieg Russlands, muss die EU hier auch Verhandlungsangebote, ob von China, Brasilien oder anderen Akteuren, aktiv unterstützen.    

Der Internationale Frauentag wurde ein einer Festveranstaltung begangen und in der sich wiederholenden Aussprache „Das ist Europa“ war dieses Mal der litauische Präsident Gitanas Nausėda zu Gast, der erläuterte, dass sein Land immerhin 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zur Unterstützung der Ukraine einsetzt, und erwartete, dass die europäische Solidarität über Waffenlieferungen hinausgeht. Er stellte dabei eine schnelle Beitrittsperspektive zur EU in den Mittelpunkt, die zugleich auch für Georgien und Moldau geöffnet werden sollte.

Weitere Themen der Plenardebatte, wie versagte Seenotrettung, Vorschläge zum Strommarktdesign, zum Industry Act, zu kritischen Rohstoffen, Mindesteinkommen und Mindestlohn, die Debatte zu Israel und die Auswertung der Ratsgipfel werden wir im Folgenden vorstellen.

Plenum I – Aussprache zur Tagungen des Europäischen Rates

Martin Schirdewan | Foto: © EUROPEAN UNION

Während der Sondertagung des Rates im Februar war Selenskyj Gast des Treffens. Charles Michel hob hervor, dass man sich weiterhin aktiv an Friedenslösungen beteiligen würde, nur fehlten die Signale aus dem Kreml, um hier voranzukommen. Der kommende Ratsgipfel wird einmal mehr den Green Deal anpacken und erörtern, wie man Investitionen für mehr Innovationen steigern kann. Dies ist unübersehbar auch eine Reaktion auf das US-amerikanische Inflationsreduktionsgesetz (Inflation Reduction Act – IRA), das massive Inventionen auf den Weg gebracht hat. Deshalb berichtete die Kommissionspräsidentin von der Leyen, dass sie in Verhandlungen mit dem Präsidenten der USA, Joe Biden, Zugangsprobleme für europäische Unternehmen auf dem amerikanischen Markt regeln konnte, insbesondere für Autohersteller. Doch sie verwies darauf, dass die Stärkung des EU-Binnenmarktes die andere Seite der Medaille sei, die mit dem am 16.3.2023 vorgestellten Industriegesetz gelingen soll. Doch die Rezepte scheinen eher aus der marktliberalen Mottenkiste zu sein, wenn man hört, dass u. a. die goldenen Mittel der Wahl in der Reduzierung von Berichtspflichten der Mitgliedstaaten und im notwendigen Bürokratieabbau gesehen werden. Diese Tendenz setze sich in der Debatte fort, denn da wurde dann schon mal von den Konservativen mitgeteilt, dass man vielleicht auch mal bei internationalen Handelsabkommen und beim Sozial- und Arbeitsschutz Abstriche machen müsste, wenn man mehr Innovationen schaffen will. Die Sozialdemokratie reagierte entsprechend klar und deutlich und erklärte hohe Sozial- und Arbeitsschutzstandards für unverhandelbar. Martin Schirdewan setzte hier an und thematisierte die völlig fehlenden Maßnahmen gegen Armut in der EU, gegen Energiearmut und Lebensmittelpreis-Spiralen. Er befand, dass das neue Europäische Industriegesetz ein De-Regulierungsinstrument unterm Deckmantel der Bekämpfung der Klimakrise sei:

„Unter dem Deckmantel der Klimaziele fördert die Kommission eine Industriepolitik von Deregulierung, staatlichen Beihilfen und Steuererleichterungen für die großen Konzerne. Grüne Industriepolitik darf jedoch nicht bedeuten, Blankoschecks an Konzerne zu verteilen. Das Ziel muss sein, die Lebensstandards aller, vom Azubi über Arbeiter:innen bis zu Erwerbslosen, zu verbessern. Wir brauchen keinen grüngelben, sondern einen rotgrünen Industrieplan.“

Damit ist der Europäische Vorschlag am Ende schlechter als die amerikanischen Gesetzgebung.

Auch der Stabilitäts- und Wachstumspakt steht beim Europäischen Rat erneut in der Diskussion. Seine Reform könnte eine Lösung der Investitionsbremse bewirken, doch hier blockiert vor allem  Deutschland mit der ewig gestrigen Kürzungspolitik. Martin Schirdewan fasste das so zusammen:

„Der Beschluss des Rates zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ist nicht viel mehr als heiße Luft. Die schwierigen Entscheidungen wurden vertagt. Das liegt vor allem an der fahrlässigen Blockadehaltung des deutschen Finanzministers Christian Lindner. Die Menschen in der EU müssen dann jedoch die unbekömmlichen Konsequenzen der ideologischen Borniertheit der Bundesregierung schlucken. So fehlt es auch weiterhin an einem konkreten Fahrplan, um die Rückkehr zu der desaströsen Kürzungspolitik ab 2024 zu verhindern.“

Plenum II – Reform des Strommarktdesigns

Cornelia Ernst / European Union 2022 – EP Brigitte Hase

Am Dienstag während der Plenartagung stellte die Kommission ihre Reform des Strommarktdesigns vor. Das ist eine Enttäuschung auf der ganzen Linie, nicht nur weil es ein Reförmchen geworden ist, sondern möglicherweise sogar den Ist-Zustand verschlechtert. Cornelia Ernst erläuterte:

„Denn dass der Ausbau der Erneuerbaren fortan nur noch mittels Differenzverträgen gefördert wird und Einspeisevergütungen nicht mehr möglich sein sollen, ist nicht nachzuvollziehen: Alle Instrumente, die dem Ausbau der Erneuerbaren dienen, sollten genutzt werden.“

Im Kommissionsvorschlag wird Strom aus Atomkraft überdies den erneuerbaren Energiequellen gleichgestellt. Ein gesetzlich verankertes Verbot von Stromsperren sucht man ebenfalls vergebens in diesem Vorschlag.

„Schließlich muss ein verändertes Strommarktdesign in Zukunft sicherstellen, dass leistungslose Übergewinne bei Stromerzeugern wie Erneuerbaren, Atom und Kohle zuverlässig abgeschöpft beziehungsweise gänzlich verhindert werden – eine Preisexplosion wie im vergangenen Jahr darf sich nicht wiederholen!“

Plenum III – Israel ist dabei, seine demokratische Verfasstheit zu verspielen

Martina Michels in der Plenardebatte in Strasbourg am 13.3.2023 | Screenshot@EP LIVE

Am Dienstagabend debattierte das Parlament über unterschiedliche Konfliktregionen wie z. B. Armenien und Aserbaidschan und ebenso zur Lage in Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten. In dieser Debatte ergriff Martina das Wort:

„Es geht nicht nur um das Justizreformpaket, das selbst Staatspräsident Herzog als ,bedrückend und schädlich für die Demokratie‘ bezeichnet hat und gegen das Tausende seit Wochen auf die Straßen gehen. Es geht auch um die Einführung der Todesstrafe, um die Übertragung der Zuständigkeiten für die besetzten Gebiete von den Militärbehörden auf das neue Büro für Siedlungstätigkeiten im besetzten Westjordanland. Es geht um eine inzwischen ungezügelte Siedlungspolitik und die Beschleunigung von Annexionstendenzen. Das sind mitnichten interne Angelegenheiten. Diese Politik ist auch keine Entschuldigung für Terroranschläge. Aber sie wird nicht dazu beitragen, die Spirale von Hass und Gewalt zu durchbrechen.“

Dezidiert setzte sie darauf, dass die EU mehr Druck auf Israels neue Regierung ausüben müsse, um die jahrelangen guten Beziehungen nicht aufs Spiel zu setzen und um an Konfliktlösungen endlich wieder anzusetzen, ansonsten würden die durchaus kritischen Worte von Borrell schlicht tatenlos verhallen.

Plenum IV – Datengesetz und eID

Das Europäischen Parlament hat in der vergangenen Woche seine Position zum EU-Datengesetz abgestimmt und sich damit für die Verhandlungen mit dem Rat und der Kommission festgelegt. Das EU-Datengesetz („Data Act“) soll den Zugang von Verbraucherinnen und Verbrauchern und Unternehmen zu nicht-personalisierten Daten erleichtern. Das Datengesetz legt Regeln für den Austausch und die gemeinsame Nutzung von Daten fest. Das Internet wird immer mehr genutzt, um intelligente Hausgeräte oder moderne Autos zu bedienen oder zu warten. Hier müssen Schutzmechanismen bei der Datenauswertung greifen und faire Verträge für die gemeinsamem Datennutzung abgeschlossen werden, die vor allem auch kleinen und mittleren Unternehmen zugute kommen. Das Datengesetz regelt auch, wann öffentliche Stellen, nämlich in Krisensituationen wie Naturkatastrophen, auf Daten privater Unternehmen zugreifen dürfen. Mit dem Gesetz soll u. a. auch der Wechsel von Cloud-Diensten vereinfacht werden.

Nutzer*innen brauchen die volle Kontrolle über ihre Daten und die Entscheidungsmöglichkeit, welche Informationen sie mit wem teilen. Genau deshalb warnen Datenschützer*innen auch vorm derzeitig ausgehandelten Zustand des Datengesetzes: Datenschützer warnen: Die europäischen Datenschutzbehörden kritisieren, dass die Verordnung bestimmte Produkte oder Dienste, die mit hochsensiblen Daten wie Gesundheitsdaten und biometrischen Daten arbeiten, vom Vorschlag nicht ausgenommen werden. Außerdem zeigen sie sich ‚sehr besorgt‘ darüber, dass öffentliche Stellen einen ‚außergewöhnlichen Bedarf‘ an Daten reklamieren können, ohne dass dieser näher definiert ist.“

In der vergangene Woche wurde auch das Verhandlungsmandat (Trilog mit Rat und Kommission) für die digitale Identität von EU-Bürger*innen über EU-Grenzen hinweg erteilt, das einen digitalen Zugang zu wichtigen öffentlichen Diensten ermöglichen soll. Online-Identifizierung und -Authentifizierung – etwa über eine „europäische Geldbörse für digitale Identitäten“ – unterstützen die Abgeordneten mit der Maßgabe, dass dafür keine kommerziellen Anbieter nötig sind, so wie es heute oft der Fall ist.

Plenum V – Mindesteinkommen inklusiv und verbindlich

Özlem Demirel im Plenum zum Mindesteinkommen, Januar 2023

Das Parlament nahm eine Entschließung an, in der eine Richtlinie zu einem angemessenen Mindesteinkommen gefordert wird. EU-Bürger*innen würden durch eine solche Richtlinie auch bei Erwerbslosigkeit in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Nationale Systeme in den Mitgliedstaaten gehören auf den Prüfstand und sollten überall an den realen Bedarfen der Menschen ausgerichtet werden. Dazu sollten sich diese Systeme an der Armuts- und Ausgrenzungsquote messen lassen, denn längst gehören Internetnutzung, Mobilität und vieles mehr zu einem angemessenen Existenzminimum, das vor allem auch ermöglicht, einen Wiedereinstieg in die Erwerbstätigkeit zu erleichtern. Auch die Information und der Beratungsanspruch zu den Unterstützungsangeboten sollte überall wieder hergestellt werden. Besonders gilt dies auch für Wohnungslose. Damit muss einer mangelnden Inanspruchnahme der Systeme für allem durch die Menschen, die sie am dringendsten benötigen, entgegengewirkt werden.

„Nach der Verabschiedung der Mindestlohn-Richtlinie im letzten Jahr ist es nun höchste Zeit, auch mit verbindlichen Mindestkriterien bei Mindestsicherungssystemen in den EU-Mitgliedstaaten gegen die immer weiter auseinander driftende Schere zwischen Arm und Reich vorzugehen und Lebensbedingungen für ein würdevolles Leben, frei von existenzieller Armut, für alle zu schaffen. DIE LINKE spricht sich zudem weiterhin gegen jegliche Sanktionsmechanismen gegen Bezieher:innen von Mindestsicherungsleistungen aus. Diese dienen lediglich dazu, Menschen zum Futter für den nimmersatten prekären Arbeitsmarkt zu machen, der für die Betroffenen meist weder eine Existenz sichert, noch eine gute Perspektive bietet und zudem den negativen Druck auf alle Löhne und gute Tarifverträge erhöht.“,

kommentierte Özlem Demirel die Entscheidungen des Parlaments.

Plenum VI – Seenotrettung

© Die LINKE im Europaparlament

Sozialdemokraten, Grüne und Linke sprachen sich einmal mehr für eine humanitäre Flüchtlingspolitik und eine Unterstützung der Seenotrettungsinitiativen aus. Doch die Stimmen für eine restriktivere Migrationspolitik wird in den konservativen Kreisen der EVP immer lauter. Sie setzen auf eine engere Kooperation mit Drittstaaten, die entlang der Migrationsrouten liegen. In erschütternder Hinsicht denkwürdig war der Auftritt von Alessandra Mussolini, die selbst Mitglied der EVP-Fraktion ist, indem sie die italienische Regierung frei sprechen wollte von jeglicher Verantwortung für das jüngst verunglückte Flüchtlingsboot vor der italienischen Küste. Cornelia Ernst resümierte in der Debatte, dass die EU Tote für ihre abschreckende Politik instrumentalisiert.

Plenum VII – Die EU und die kritischen Rohstoffe

Die EU will ein Gesetz zu kritischen Rohstoffen auf den Weg bringen.

„Die neuen ‚Strategischen Projekte‘ entlang der Wertschöpfungskette kritischer Rohstoffe laufen … Gefahr, Angriffen auf Umwelt- und Sozialstandards Tür und Tor zu öffnen: Eine seriöse Abschätzung von Umwelt- und Sozialfolgen neuer Bergbauprojekte sowie eine demokratische Einbindung der Öffentlichkeit ist in vielen Fällen nicht innerhalb von 24 Monaten zu gewährleisten. Wenn die ‚Strategischen Projekte‘ nun auch durch öffentliche Beihilfen gefördert werden sollen, braucht es darüber hinaus eine öffentliche Debatte darüber, was tatsächlich in öffentlichem Interesse ist – die Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen, die durch die Rüstungsindustrie genutzt werden, darf nicht öffentlich gefördert werden!“,

merkte Cornelia Ernst zu diesem Vorschlag u. a. an.

Wir trauern um Hans Modrow

Gedenkfeier für Hans Modrow | Foto: Peter Cichorius

Schon am Mittwochmorgen brach Martina von Straßburg nach Berlin auf, um die Gedenkveranstaltung der Partei DIE LINKE für Hans Modrow pünktlich zu erreichen. Der einstige letzte Regierungschef der DDR war bis zu seinem Tode Mitglied der LINKEN. Er war eine Legislatur im Europaparlament (2004 bis 2009) und viele Jahre Vorsitzender des Ältestenrates der Partei. In einer würdigen Gedenkstunde nahmen Genossinnen und Genossen Abschied von Hans Modrow. Als DDR-Ministerpräsident sicherte er den friedlichen Übergang und organisierte die ersten freie Wahlen. Eine bundesdeutsche Würdigung dafür blieb ihm versagt, was auf der Gedenkstunde im Münzenberg-Saal des Gebäudes des Neuen Deutschlands auch ausgesprochen wurde. 

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.