Martinas Woche 11 – 2020: Don’t Panic und danke für Solidarität und Vernunft!

1 Meter Abstand im Plenarsaal, 10. März 2020 | Foto: Martina Michels

Verkürzte Plenarwoche – Naturgewalten: Corona-Virus global – Von Menschen gemacht: Flüchtende ohne Rechte – Jugendkarlspreis

„Das Virus ist unsichtbar, aber Hilfe ist sichtbar“, sagte ein Düsseldorfer Pfarrer an diesem Sonntag in seiner Online-Predigt, die er in seiner leeren Kirche aufnahm. Das Corona-Virus hat Europas Politik fest im Griff, obwohl die meisten Entscheidungen und praktischen Koordinationen derzeit auf den Schultern der Kommunalpolitikerinnen und -politiker liegen, und vor allem auf den Schultern der Beschäftigten im Gesundheitswesen. Jede und jeder spürt, dass ein koordiniertes europäisches Handeln von Vorteil wäre, so wie es derzeit sowohl Ursula von der Leyen als auch heute Sassoli, der Parlamentspräsident, fordern, denn wir werden über kurz oder lang auch eine Zusammenarbeit bei der medizinischen Hilfe, dem Aufrechterhalten von Infrastrukturen und den Lösungen brauchen, bei den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie ausgleichend durch Investitionen, Sofort- und Direkthilfen. Doch wir erleben einmal mehr eher das Gegenteil, sei es bei den Grenzschließungen und den regionalen Maßnahmen, um die Ansteckungsgeschwindigkeit zu verlangsamen, damit das Gesundheitswesen nicht weiter unter Druck gerät. Die Situation in Italien ist jetzt schon so angespannt, dass Ärzte berichten, dass sie wie zu Kriegszeiten zur Triage übergegangen seien, einer Situation, in der in schweren ethischen Entscheidungskonflikten entschieden wird, wer die noch verfügbare medizinische Hilfe bekommt. Andererseits zeigen Italienerinnen und Italiener größte Solidarität mit ihren Pflegekräften oder singen von ihren Balkonen, um die eigenen Isolationssituationen psychisch zu verkraften. Eine der wohl interessantesten Erfahrungen wird derzeit ausgerechnet von der Insel Lesbos – aus dem Moria-Camp – erzählt. Eine junge Frau aus Afghanistan, die in Moria feststeckt, hat ein kleines Nähunternehmen gegründet, Materialien aus dem Internet bestellt und so werden bis zu 1000 Atem-Masken täglich produziert, die am Ende auch den Inselbewohnerinnen und -bewohnern zur Verfügung stehen, denn die medizinische Versorgungslage war dort – neben allen anderen ungelösten Problemen – schon vor den Corona-Zeiten ziemlich unterirdisch. Sie arbeitet mit dem Corona Awareness Team mit der „Stand by m Lesvos“-Gruppe, so heißt sie auch auf Facebook, und man kann auch spenden: 

Die Spende geht an Stand by me Lesvos 

Piraeus Bank   

Account No: 5709086466501Leerer Plenarsaal in Brüssel, 9. März 2020

IBAN GR4201727090005709086466501

SWIFT-BIC PIRBGRAA

Europaparlament tagt verkürzt und geht ins Homeoffice

Leerer Plenarsaal in Brüssel, 9. März 2020 | Foto: Martina Michels

Zum einen wurde die reguläre Plenumstagung in Absprache mit den französischen Behörden am Donnerstag, den 5. März von Strasbourg nach Brüssel verlegt. Zum anderen beschloss das gesamte Parlament zum Plenumsbeginn am Montag, den 9. März um 17 Uhr, nur bis zum 10. März abends zu tagen. Je ein Meter Abstand zwischen den Abgeordneten sollte eingehalten werden und die Tagesordnung enthielt nur noch Debatten zum Corona-Virus selbst, zur Lage Geflüchteter an der griechischen Grenze und zum mehrjährigen Finanzrahmen. Etwas frustrierend erschien manchen diese Lösung trotzdem, weil, warum noch lange diskutieren ohne zu handeln und ohne klare Beschlüsse Richtung Rat und Kommission? Und genau diese klare Stimme wäre bitter nötig gewesen, schaut man auf die jämmerlichen Beschlüsse, die die Innenminister der Mitgliedstaaten in dieser Woche zur sofortigen Unterstützung schutzbedürftiger, unbegleiteter Kinder und Jugendlicher auf Lesbos trafen. Sie überleben unter grauenvollen Umständen in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln und das übrigens zum Teil schon seit Jahren. Sie sollten jetzt sofort evakuiert werden.

Belgiens staatliche Institutionen reagierten auf die täglich neu zu bewertenden Lageanalysen zur Ausbreitung des Corona-Virus in gewohnter Art: strikt, aber ohne Panik und auch der belgische Föderalismus bremste hier keinerlei schnelle Beschlüsse. Wo es ging, wurde Home-Office angeordnet, hier ging auch das Europaparlament mit seinen Regelungen voran. Schon in der vergangenen Woche wurden Schulschließungen mit einer Betreuung der Kinder angekündigt, die trotzdem betreut werden müssen, weil die Eltern in Pflegeberufen oder anderen sensiblen Bereichen beschäftigt, weiterarbeiten. Die Schließung von Kultureinrichtungen, Gotteshäusern und Gaststätten folgte.    

Corona-Virus 1: Wie geht es weiter mit der Arbeit in den EU-Institutionen? 

Flughafen Brüssel „rushhour“ am 10. März 2020 | Foto: Martina Michels

Auch wir können diese Frage nicht wirklich beantworten. Fakt ist, dass Besucherinnen und Besucher bis zum Juli 2020 erst einmal nicht ins Parlament können und damit auch die geplanten Gruppenbesuchsfahrten ausfallen. Zugleich sind derzeit erst einmal alle Veranstaltungen, die im Parlament stattfinden, abgesagt oder werden als verkürzte Livestream-Varianten vorbereitet, so sich das realisieren lässt. Damit entstehen jede Menge Arbeitsaufgaben, die sehr frustrierend sind: Absagen, Vertrösten, Absagen, Umplanungen. Und die ersten unmittelbaren existenziellen Probleme werden auch in unserem Arbeitsumfeld deutlich: Viele Dolmetscherinnen und Dolmetscher, die wir zusätzlich bei Veranstaltungen verpflichten, sind Selbständige. Deren Existenzgrundlage bricht gerade weg und sie fallen nicht unter großzügige Kurzarbeiterregelungen oder können, wie produzierende Kleinstunternehmen mit günstigen Krediten weiterarbeiten. Doch auch sie müssen Miete zahlen und ihren Lebensunterhalt weiter bestreiten. Wenn wir also umdenken, und die wertvolle Arbeit, die sie sonst in Veranstaltungen leisten durch Online-Anhörungen, e-Fachgespräche und andere Formate unterstützen können (Untertitelungen in Videos, obligatorische Übersetzungen, mehrsprachige Flyer und Broschüren usw.), so sollten wir dies in den kommenden Wochen tun und sofortig Auftrag geben. Hier sind unseren Ideen, wie auch wir unsere politische Arbeit – so wie sonst auch gemeinsam mit Übersetzerinnen und Übersetzern – fortsetzen können, keine Grenzen gesetzt.

Corona-Virus 2: Kulturschaffende, Selbständige in Existenznot und trotzdem mit vielen Ideen

Volkspark Friedrichshain, März 2020 | Foto: Konstanze Kriese

Die drastischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des Corona-Virus treffen auch Kulturschaffende ganz massiv. Die Kultur- und Kreativwirtschaft (cultural and creative industries – CCI) hat innerhalb der EU mehr Beschäftigte als die Automobilindustrie. Der Umfang der Arbeitsplätze ist normalerweise ziemlich stabil, z. B. weil sie nie verlagert werden. 12,5 Millionen Menschen arbeiten in der Kultur- und Kreativwirtschaft in Vollzeit. Das sind 7,5% aller Beschäftigten in der EU, die 5,3% der Bruttowertschöpfung erarbeiten. Das zeigt jedoch: In der Kultur- und Kreativwirtschaft sind für viele die Einkommen niedrig. Und nun kommen enorme Einnahmeausfälle auf Musiker*innen, Autor*innen, Techniker*innen und Vortragsreisende zu.

In Deutschland gibt es hier sowohl im deutschen Kulturrat, aber auch im deutschen Bundestag, bei den Kulturminister*innen und -senatoren der Länder und bei Verdi eine hohe Sensibilität für diese Situation. Klaus Lederer, der Berliner Kultursenator hat hier klar Stellung bezogen, genau wie unsere kulturpolitischen und medienpolitischen Sprecherinnen im Deutschen Bundestag, Simone Barrientos und Doris Achelwilm. Doch nicht nur der Bund, auch die Europäische Haushaltspolitik hat dieser Lage Rechnung zu tragen und wir hoffen, dass dies in den derzeitigen Haushaltsverhandlungen, die dann vor allem während der Deutschen Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr 2020 anstehen, beachtet wird. Unabhängig davon braucht es überbrückende Soforthilfen.

Es gibt erste Ideen, wie auch Kulturkonsument*innen das ihre beitragen können. Haben sie, habt ihr Karten erworben und die Konzerte oder Aufführungen werden abgesagt, so verzichten sie, verzichtet ihr, wenn ihr es euch leisten könnt auf die Rückforderungen. Das sichert Spielstätten. Animiert Kulturleute zu online-Formaten mit Entgelt.    

Corona-Virus 3: „flatten the curve“: Italien, Pflegekräfte, Hamsterkäufe, e-learning. Lesbos … ein Versuch klarzusehen

Pflegekräfte in Italien an der Grenze ihrer Belastbarkeit | via FaceBook von Don Tamer Halasheh

Don’t Panic und tuen wir alles für einen solidarischen Umgang, für Vernunft bei der Prävention, für Unterstützung bei den noch unklaren Folgen. Zu Recht müssen wir festhalten: Die Lage der Pflegekräfte, nicht nur in Italien, hat ihre Ursache nicht allein in der Corona-Pandemie. Schon lange belastet uns die Pandemie des „Alles muss sich rechnen“, wie Uwe Schwarz richtig bemerkte und man kann nur hoffen, dass sich noch mehr solche Einsichten auch in der herrschenden Politik durchsetzen.

Schauen wir also nach vorn, dahin, wo wir mit anpacken können. Das heißt für manche, sich einer nervigen Isolation zu ergeben, Quarantäne einzuhalten, um sich und andere nicht weiter zu gefährden. Die Risikogruppen: mehrheitlich ältere Menschen, chronisch Kranke brauchen Unterstützung bei Einkäufen oder ähnlichem. Nachbarschaften können dies organisieren. Doch was sie nicht brauchen, sie können jetzt nicht die Enkelpflege übernehmen, wenn Schulen schließen. Dies muss behördlich über Schulen und Kitas geregelt werden.

Wir denken an Euch, Ihr seid in unseren Herzen, Danke für Euren Einsatz! schrieb der Pizza-Service in Italien | via FaceBook von Don Tamer Halasheh

Ein Blick nach Italien: dort sind Bürgerinnen und Bürger jetzt schon in großer häuslicher Isolation und sie wissen sich zu helfen und Mut zu machen und singen von den Balkonen, musizieren getrennt, gemeinsam in völlig neuen Formen. Das macht nicht nur Mut, es hilft hoffentlich auch, einen dramatischen Anstieg häuslicher Gewalt, so wie er jetzt schon aus China gemeldet wird, aufzufangen. Ja, wir müssen sehr bewusst die einfachsten kreativen Ideen der Menschen aufgreifen, die uns ein zugewandtes, solidarisches Sozialleben in Zeiten von Corona sichern.

Machen wir uns nichts vor, Menschen lassen sich nicht über Wochen einsperren, wenn sie dabei allein gelassen werden. Wir brauchen das e-learning für Kinder, den Gesang vom Balkon, das Konzert aus dem Netz oder das Schulfernsehen im Fernsehen, um unser soziales Leben derzeit neu zu organisieren. Und alle Ideen sind dabei willkommen. Was wir nicht brauchen, sind Egoismus, Leichtfertigkeit, Alarmismus und das Wegschauen gegenüber den Konflikten, die nicht alle nur ihre Ursache im COVID-19-Virus haben, sondern durch die Pandemie gründlich verschärft werden. Das ist ein kaputtgespartes Gesundheitssystem, die Privatisierung von Gesundheit und Pflege, die Unfähigkeit einer koordinierten Europäischen Politik in Konfliktlagen, die wir bei der Asylpolitik, aber nicht nur da, nun schon viele Jahre beobachten.

Jugendkarlspreis – Gewinner aus Deutschland prämiert

Das Gewinnerprojekt im Telegrammstil – CYP 2020 | Screenshot

Es wirkt ein wenig wie: Was sonst noch passierte. Doch wir freuen uns mit den diesjährigen Preisträgern des Jugend-Karlspreises 2020 aus Deutschland, dem European Archive of Voices. Am Mittwoch war die Jurysitzung der deutschen Abgeordneten, die den Preis vergaben. Helmut Scholz vertrat dort Martina Michels, die mit ihrem Büro wieder unter den 22 eingereichten Projekten sichtete, was es für schöne Ideen gibt, sich mit Europäischer Geschichte und Politik kritisch und kommunikativ auseinanderzusetzen. Wir begrüßen es sehr, dass es ein interessantes Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen-Projekt in die Spitze geschafft hat, denn es ist damit auch nicht nur ein Jugend, sondern ein inter-generatives Projekt. Bisher ist für den 19. Mai die Preisverleihung in Aachen geplant.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.