„Über die EU zu reden, als sei sie der Teufel, ist nicht zeitgemäß.“

EuPoS-Klausur, Prag, Mai 2022 | Foto: Jörg Bochmann

Konstanze Kriese

„Politische und soziale Lage in Mittel-, Ost- und Südeuropa“ – Klausur der Europapolitischen Sprecher*innen in Prag, gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS)

Joanna Gwiazdecka, Leiterin der RLS in Prag, gab gleich nach der Eröffnung der Klausur durch Wulf Gallert und Cornelia Ernst einen Überblick über die Zusammenarbeit der Stiftung mit linken Kräften (KSČM, Levica) und Gewerkschaften in Tschechien und blickte dabei zugleich auch in die südöstlichen Nachbarländer. Die Stiftung ist dort mit vielen jungen Leuten sehr aktiv.

Joanna hielt fest, dass durch den Krieg in der Ukraine das informelle Bündnis der Visegrád-Staaten innerhalb der EU (V4: Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) gesprengt wurde, weil vor allem deren energiepolitischen Interessen stark auseinanderdriften.

Zum Beispiel ist die Slowakei nicht nur vom russischem Gas, sondern darüber hinaus auch noch von der Lieferung von Brennelementen aus Russland für die Atom-Kraftwerke abhängig. Politisch verbünden sich dort gerade Sozialdemokraten und Rechtsradikale; der Erklärungsbedarf ist groß und Abgrenzung nötig. Polen hingegen fährt einen harten Sanktionskurs gegen Russland. Orbán hatte die ersten Kriegsfolgen im Wahlkampf noch clever genutzt und einen Energiepreis-Stopp vor dem Wahltag verfügt. Für seine Wiederwahl war diese soziale Maßnahme entscheidend. Tschechiens Energiepreise sind inzwischen schon um 100 Prozent gestiegen. Die wirklich sinnvollen politischen Vorschläge, wie die Lage bewältigt werden kann, kommen sowohl aus dem Lager der Klimaaktivisten als auch von der KSČM, die jedoch nicht einmal als Opposition im Parlament sitzt.

EuPoS-Klausur mit Joanna Gwiazdecka, Prag, Mai 2022 | Foto: Konstanze Kriese

Die Fehleranalyse der KSČM ist, was die jüngste Zeit anbetrifft, hart und klar: Die Tolerierung der Babiš-Regierung war falsch. Doch es gibt auch Fehler, die die osteuropäische Linke schon länger mitschleppt und die sogar bisweilen eine Gemeinsamkeit mit der westeuropäischen Linken konstituiert. Joanna schätzte ein, dass die komplizierte Geschichte des Baltikums noch immer nicht wirklich aufgearbeitet ist und deshalb gegen eine naive Linke auch gut eingesetzt wird. Solange Linke den Stalinismus nicht so aufarbeiten, dass sie klar die Verbrechen – auch vor, während und nach dem 2. Weltkrieg – benennen, bleiben sie als Bewegung schlichtweg angreifbar und werden von Antikommunisten aller konservativen und nationalistischen Richtungen als illegitime Nachfolger Stalins stilisiert. Geschichtsdebatten und kulturelle Aneignung spielen daher in der Stiftungsarbeit eine wachsende Rolle. Dies ist für die Westlinke und deren marginales Wissen über Osteuropa genau genommen von Vorteil, hierzu endlich ins Gespräch zu kommen.

Ebenso sind Frauenrechte und das Thema Gleichstellung wichtige Arbeitsschwerpunkte der RLS, wie auch die Lage der LGBTI-Communities.

Ein Beispiel, das überall dort Schule machen könnte, wo Gewerkschaften schwach und Union Busting (Gewerkschaften bekämpfen) an der Tagesordnung sind, ist die Gründung einer Gewerkschaft für Pflegeberufe mit Hilfe der Uni Global, der internationalen Dienstleistungsgewerkschaft in Tschechien. Das sind die seltenen Momente, in denen die Pandemie mal Positives zeitigte.

Fabian Wisotzky vom Europareferat der Stiftung stellte in den Mittelpunkt seiner Ergänzungen, dass derartige Analysen und die Projektarbeit in Ost- und Mitteleuropa vor der Europawahl 2024 für die RLS eine große Bedeutung haben und eine europaweite Zusammenarbeit für eine positive, linke „Erzählung für Europa“, einer EU mit Reformbedarf entstehen soll. Das Brüsseler Büro könnte hierbei ein Scharnier sein.

Krieg und rechte Narrative

Jaroslav Ružička und Dagmar Svendowa aus der KSČM gingen schonungslos ins Detail bei ihrer Fehleranalyse, warum die Partei 2021 aus dem Parlament flog. Sie betonten, dass sie bei der Tolerierung der Babiš-Regierung einfach nicht sehen wollten, wie der Premier mit ihnen spielte. Ja, es wurden die Renten erhöht und es gab soziale Aufwüchse, die die KSČM mit der Tolerierung eingefordert hatte. Die Erfolge verbuchte Babiš im Wahlkampf für sich als aus der Regierung kommend, die weniger populären Maßnahmen wurden der KSČM angelastet. Wer da wie wirklich produktiv Politik machte, blieb am Ende für Wählerinnen und Wähler im Dunkeln und war nicht mehr durchschaubar.

Dagmar Svendova und Jaroslav Ružička, EuPoS, Prag, Mai 2022 | Foto: Konstanze Kriese

Derzeit werden die Probleme nicht kleiner im politischen Deutungskrampf. Der Ukraine-Krieg wird flugs in ein antikommunistisches Narrativ verpackt, indem die tschechischen Rechten einfach bündeln: Krieg = Aggression = Putin = Russland = Sowjetunion = Kommunismus. Und daraus wird kurzerhand: Die kommunistische Tradition ist schuld. Und diese sehr einfache Gleichung nutzen die Rechten, indem sie darauf aufbauend erklären: Wir orientieren uns am Westen, nutzen dann bessere Mindestlöhne oder Fondseinhegung bei Wohnungsunternehmen, also sind ganz bemüht um die soziale Sicherung, die in der EU immerhin diskutiert wird. So wird die „soziale Karte“ Teil der Begründung für die Westbindung, egal wie dies real bei Bürgerinnen und Bürgern ankommt.

„…die reden nur über die Kirschen auf der Torte“

Kateřina Konečná, EuPoS, Prag, 2022 | Foto: Jörg Bochmann

sagte Kateřina Konečná, seit sechs Monaten die neue Chefin der tschechischen Kommunisten (KSČM), über die parlamentarische rechtspopulistische Opposition in Tschechien. Denn diese Parteien sind nicht mehr dran an den strukturellen sozialen Verwerfungen. Sie feiern sich sogar für ihre ungerechte Pauschalbesteuerung, die jeden Millionär genauso behandelt wie die, die Mindestlöhne bekommen. Energiearmut, Mietenprobleme kommen bei denen, die Babiš 2021 abwählten, nicht mehr vor. Dies ist umso erstaunlicher, denn zuvor war die „soziale Karte“ Teil des Erfolgsrezepts der Nationalisten, genau wie im Nachbarland Polen. Die Tolerierung der Babiš-Minderheitenregierung durch die KSČM war ein kardinaler Fehler. So schätzten es ja auch die Kommunalpolitiker*innen und junge Mitglieder der KSČM, Dagmar Svendova und Jaroslav Ružička, ein. Die Partei flog 2021 komplett aus dem Parlament.

Wie nebenbei war zu lernen, dass das Erstarken des Nationalismus tatsächlich ein komplexes Gewebe ist, das nicht einfach entwirrt werden kann, aber letztendlich von einer internationalistischen, antirassistischen Linken unter die Lupe genommen werden muss, statt die einfachen Erklärungsmuster von „Protest und Unmut bedienen“, „an niedere Instinkte anknüpfen“ zu wiederholen, ohne die reale Politik und die sozial-ökonomischen Parameter, Sozialstrukturen, den Einfluss von Kirchen und geschichtlichen Erzählungen zu analysieren. Und um dann am Ende doch nicht zu verstehen, was da so festsitzt, dass man diesen Rechtsaußenparteien in Osteuropa sowohl Repressionen gegenüber den Medien, neoliberale Wirtschaftspolitiken und eine erbitterte Aggression gegenüber Minderheiten, Migranten und der Mehrheit der Frauen durchgehen lässt.

Unsere Klausur fand genau eine Woche vor dem Parteitag der KSČM statt und wir waren wirklich überrascht, mit welchem Mut die kandidierende Vorsitzende kurzerhand entwickelte, wie jetzt die Kommunalwahlen angepackt werden, um dann nach dem September 2022 sich zu 100 Prozent in ein Comeback bei den Europawahlen zu stürzen. In Tschechien müssen die Parteien dafür generell eine 5-Prozent-Hürde knacken. Deutschland droht diese undemokratische Regelung in Höhe von 3,5 Prozent vielleicht ebenso. Andererseits kommt möglicherweise erstmalig die transnationale Liste, ein überfälliger Schritt, die Europawahlen wirklich zu europäisieren. Gerade die Zuhörer*innen aus Deutschland staunten, was Parlamentsrausschmisse so an strategischem Umdenken bringen können. Europawahlen als gemeinsamer Anker des Aufbruchs, ich glaube, davon ist DIE LINKE derzeit noch weit entfernt. Die kleineren Länder wissen ohnehin besser als Frankreich oder Deutschland, dass Europapolitik wirklich keine Außenpolitik ist, dass sie sich bei der Strukturentwicklung auf die EU stützen, dass ihre Jugend sich sehr positiv auf die EU bezieht, vor allem auf demokratische Wertversprechen, die zwar bei weitem nicht eingelöst sind, aber gegenüber ihren rechtspolitischen Regierungen dann bei der EU festgemacht werden. Und dies nicht immer zu Unrecht, den von da kommen die Forderungen zur Einhaltung von Medienfreiheit oder Rügen wegen verwehrter Frauengleichstellung und Reproduktionsrechte. Diese Sicht kam auch klar von unseren polnischen, ungarischen und ukrainischen Gesprächsteilnehmer*innen. Dies muss ein linkes EU-Wahlprogramm am Ende eben auch widerspiegeln, neben klarer Kritik und ernsthaften konkreten Vorschlägen, wie wir uns eine wirklich demokratische, soziale und weltoffene EU vorstellen, die zur friedlichen Konfliktbeilegung wirklich etwas beizutragen hat.

Kateřina war es allerdings wichtig zu betonen, dass sie die einzige tschechische Partei vertritt, die Waffenlieferungen ablehnt. Alle anderen im eher linken Spektrum sind dafür. Kommunal arbeitet man gut zusammen, doch auf der nationalen Ebene sieht sie da derzeit keine Möglichkeiten für eine intensive Kooperation.

Alternative Energiepolitik in Tschechien

Cornelia Ernst, die selbst energiepolitische Sprecherin unserer LINKEN-Delegation in Brüssel ist, moderierte Radek Kubala von RE:SET in dieser Runde. Er stellte einen „New Green Deal for Czech Republic“ vor, ein eigenes Konzept, dass man unter Nova dohoda novadohoda.cz findet. Dies ist ein Plan für einen sozial-ökologischen Umbau mit Debattenplattform für Gewerkschaften und soziale Bewegungen.

Obecní dům in Prag, Mai 2022 | Foto: Konstanze Kriese

In der Debatte wurde viel nach der nicht immer ganz einfachen Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften gefragt und auch mit Vertreterinnen und Vertretern der Kommunen, die möglicherweise als alternative Energieproduzenten Entwicklungsmöglichkeiten hätten. Radek befand, dass die ganze demokratische Dimension des sozial-ökologischen Umbaus in die Kommunalwahlen gehört und hoffte, damit auch der Schwierigkeit zu begegnen, dass die Bewegung (verwandt mit der Deutschen Klimakoalition) derzeit im tschechischen Parlament keinen richtigen Ansprechpartner hat.

„Ein Elefant, den wir nicht gesehen haben…“ –

Ivo Georgiev über den Krieg in der Ukraine und die Herausforderungen für die Linke

Ivo Georgiev, EuPoS, Prag, Mai 2022 | Foto: Jörg Bochmann

Als Ivo Georgiev (RLS-Büroleiter in Kiew) eingangs vom Erfahrungsvorsprung des Ostens sprach, meinte er, dass das analytische Rüstzeug für die Entwicklungen in Russland unter Putin bei den Osteuropäerinnen und Osteuropäern wesentlich mehr „Antennen“ hat, die Westeuropäer*innen bis heute eher weniger bekannt sind, angefangen bei der wechselvollen Geschichte des Baltikums. Die Geschichte des Ostens brauche „besondere Expertise und Zuneigung“. Und dies trifft eben auch für die Linke zu. Und trotzdem, so betonte Ivo, der kurz vor Kriegsbeginn von Kiew nach Berlin ausreiste, ist der Krieg schwer zu verstehen, auch bei aller Expertise und dem täglichen Verfolgen der Informationen auf Russisch und Ukrainisch.

Fakt ist, dass es Ukrainer*innen durchaus nachvollziehbar seltsam vorkommt, wenn sie Mitteilungen Linker aus Deutschland lesen, dass nach der Feststellung, dass der Krieg ein Angriffskrieg Russlands ist, dann drei Seiten über die Verfehlungen der NATO folgen. Daher seine Schlussfolgerung: Wir brauchen eine ausdifferenzierte Erzählung für den Westen und für den Osten, wie sich Russland vorm Krieg entwickelt hat, denn es ist wichtig, wie man über diesen Krieg öffentlichen redet. Was nicht geht ist, dass sich Ukrainer*innen nie wahrgenommen fühlen, auch nicht von (west-)europäischen Linken. „Der Krieg hält den Linken einen großen Spiegel an Defiziten, Fehleinschätzungen vor.“ Es ist ein Angriffskrieg, begonnen als Blitzkrieg, welcher nicht funktioniert hat, nur war Ivo nicht vom Widerstand der Ukrainer*innen überrascht. Inzwischen haben wir einen Abnutzungs- und Zermürbungskrieg. Die Frage aus der eigenen Familie erzählend, wie es denn jetzt weitergehe mit diesem schrecklichen Krieg, antwortete Ivo Georgiev, dass es nicht auszuschließen ist, dass uns das Schlimmste noch bevorsteht. Auch eine nukleare Eskalation sei nicht auszuschließen, da Russlands erklärtes Ziel von Beginn an Landnahme ist.

Auch unsere linken Kollegen, so Ivo, leisten dort Widerstand mit Waffen in der Hand und wundern sich über diverse – nicht nur linke Aufrufe – z. B. aus Deutschland. Die Logik der Friedensbewegung wird aktuell nicht verstanden und die Linke in der Ukraine hält sie derzeit nicht für anwendbar, selbst wenn sie sogar Verständnis zeigt für Haltungen gegen Waffenlieferungen. Doch zumindest notwendig sind Sanktionen gegen Russland sowie eine Entschuldung der Ukraine. Linke aus der Ukraine und auch aus Russland finden: „Über die EU oder gar NATO als der Teufel zu reden, ist nicht zeitgemäß. Die EU ist eine Realität und wir sollten die EU und die NATO nicht in dieser Art und Weise wegdiskutieren. In einem ersten Schritt muss man diese Institutionen erst einmal annehmen, um sich damit auseinanderzusetzen.“ Die diffuse Idee von einer europäischen Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands zieht zurzeit wirklich nicht, schon gar nicht in der Ukraine. Fakt ist, dass sich die NATO dort nicht aufgedrängt hat. Ivo erwartet und plädiert für eine Versachlichung der Diskussion. „Diese Überfokussierung auf die NATO ist falsch.“ Auch die Ukrainer selbst wollen derzeit keinen NATO-Beitritt, aber sie wollen Sicherheitsgarantien. Ja, sie wünschen sich auch Waffen. Sie verlangen selbst nicht, dass man alle ihre Forderungen einfach komplett übernimmt, aber man sollte weniger paternalistisch über Ukrainer*innen sprechen, konstatierte Ivo in Richtung Westlinke. Er ließ zugleich die Frage im Raum stehen: Wenn man das Recht auf Landesverteidigung akzeptiert, wo ist dann das Argument für „keine Waffen“?

Wofür kämpfen Ukrainerinnen und Ukrainer? Sie kämpfen sicher nicht für Europa, aber sie kämpfen für dieselben Werte. Und dies sollte man nicht unterschätzen, dieses Selbstverständnis des Widerstandes gegen den Angriffskrieg. In Cherson gibt es sicher passiven, zivilen Widerstand, aber ansonsten ist dieser als ausschließlicher und waffenloser Weg kein selig machender Vorschlag und die angedrohte „Russifizierung“ hat längst begonnen. Es verschwinden Menschen in Cherson, es gibt täglich Repressalien, das Internet wurde abgeschaltet. Hier kann man nicht relativieren. Abschließend betont Ivo, dass ein Waffenstillstand nicht das Ende des Leidens sein wird, wie die Entwicklung in Cherson zeigt und genau davon gehen viele Menschen in der Ukrainer aus.

Die Debatte war entsprechend leidenschaftlich, mit vielen weiteren Fragen, die vor allem zum Ziel hatten, wie man z. B. In der deutschen Linken einen produktiven Debattenraum eröffnet, der einerseits die Lage und die Forderungen der Ukrainerinnen und Ukrainer wirklich anerkennt und wertschätzt und andererseits auf dieser Basis eine analytisch fundierte Solidarität mit klaren Unterstützungsforderungen des Widerstandes der Ukrainer gegen diesen Angriffskrieg entfaltet, der auch unterschiedliche Auffassungen zulässt, bis hin zur Unterstützung von Waffenlieferungen für die, die sich in einem Angriffskrieg verteidigen, weil ein Leben unter dem Aggressor am Ende auch kein Ende des Leidens bedeutet.

„Nationalismus hat nicht nur ökonomische Ursachen.“

Den Auftakt am Samstag gestaltete Sławek Bichiewicz von der Redaktion Krytyka Polityczna aus Polen. Er stieg damit ein, dass in Polen inzwischen drei Millionen Geflüchtete aus der Ukraine sind, das Land jedoch darauf nicht gut vorbereitet ist. Es fehlt an Angeboten der gesundheitlichen Grundversorgung aus dem öffentlichen Sektor, Schulen, Wohnungen, Hilfen bei administrativen Angelegenheiten. Die Zivilgesellschaft übernimmt derzeit die Verantwortung in allen diesen Bereichen. Die Lage ist in Ungarn ähnlich und beide sind zudem im Konflikt mit der EU durch deren eingeleiteten Rechtsstaats-Verfahren.

Offen ist die Frage: Wie lange lässt sich diese Solidarität durchhalten?

Sławek Bichiewicz, EuPoS, Mai 2022 | Foto: Jörg Bochmann

Manche fragen, ob diese Konflikte zu einem „Polexit“ führen können. Doch die Menschen in Polen, so konstatiert er, sind eher Pro-Europäer*innen. Derzeit sind die Europäischen Fonds eingefroren für einige Monate und Kaczyński wird nächste Woche entscheiden, wie man damit umgehen will. Das sei eigentlich ein sehr weit geöffnetes Fenster für linke Kräfte. 12 Prozent hatten sie noch 2009, dann nur noch 5 Prozent.

Die Inflation klettert in Polen auf 12 Prozent, die Unternehmen sind stark belastet, die Armutsrate steigt, dazu die vielen Menschen auf der Flucht und der angespannte Wohnungsmarkt. Das offizielle Polen agiert jedoch im Narrativ, dass es derzeit die Werte Europas verteidigt. Wozu sollen da die Restriktionen aus Brüssel noch einen Sinn haben? Wie unterstützen Berlin und Paris, wird da auch konkreter nachgefragt. Wo sind die Darlehen aus Brüssel?

Pazifismus, NATO – alles wird in der linken Koalition neu diskutiert. Wie kommen wir in einer multilateralen Welt zurecht? Wie kann ein europäisches Sicherheitssystem aussehen? Osteuropa hat hier ein ganz anderes Schutzbedürfnis. Früher schrieben eher diverse Linke für die Zeitung, auch von DIEM25, doch heute sind die Differenzen in den Auffassungen eher gewachsen. Für viele Linke aus Polen ist die europäische Sicherheitspolitik ein entscheidendes Problem in einer osteuropäischen Koalition von Linken aus baltische Staaten und alle haben eine starke Bindung an die EU, das sollte man akzeptieren.

Die Nachfragen waren vielfältig und richteten sich vor allem auf den unterschiedlichen Umgang mit Flüchtenden aus Afghanistan oder eben der Ukraine, auf den Kampf gegen Nationalismus und Antisemitismus. Sławek verwies in seinen Antworten auf den engen Dialog der Konservativen und Rechten mit der Kirchen, der vergiftend für linke Politik ist. Wenn 80 Prozent der Bevölkerung keine Darlehen erhalten und keine Ersparnisse haben, aber permanent mit dem Traum von Familie, Auto und Haus gefüttert werden, da ähneln diese Geschichten um ganz bestimmte Lebensweisen durchaus den kulturellen Erzählungen Orbáns.

Ein zweiter Aspekt ist wichtig für die polnische Regierungspolitik: Eine Existenz der Ukraine ist existenziell für Polen, weshalb sie die Unterstützung der Flüchtenden – und sich dabei hervorhebend als Verteidiger der europäischen Werte – in ihren tiefen Rassismus und Nationalismus einfach einbauen, so skizziert Slawek die PiS-Politik (PiS: Prawo i Sprawiedliwość, Recht und Gerechtigkeit).

Razem, von der polnischen Linken, wirft westlichen Linken vor, dass sie mit ihrem strikten Pazifismus die Kreml-Propaganda stützen. Vielleicht ist es nicht intendiert, aber sie erleben es so. Die ukrainischen und polnischen Linken kritisieren die deutsche Kraftlosigkeit und Tatenlosigkeit der Linken, deren Diskussionen um die NATO, und verstehen in diesem Zusammenhang nicht, warum sie dann auch keine europäische Armee als Alternative zur Diskussion stellen. Darüber hinaushält Razem das ewige NATO-Bashing für ein antiquiertes Klischee. Diese Art „Ostpolitik“ funktioniere nicht mehr und „Wandel durch Handel“ hat ebenso nicht funktioniert. Babiš in Tschechien band sich ebenso mit den Gaslieferungen an Russland. Was viele EU-Staaten da taten, war nicht nur sicherheits-, sondern auch klimapolitisch fragwürdig.

Deshalb schlussfolgerte Sławek, dass eine andere Klimapolitik, um die Abhängigkeit von Russland zu beenden, ein echtes Entwicklungspotential unter Linken hätte. Kurz: Die politische Linke ist in Polen komplett pro-europäisch, auch wenn die EU renoviert werden muss.

Als Journalist berichtete Sławek, wie NGOs und Redaktionsstuben mit Prozessen überzogen werden. Die Strategie dabei ist gar nicht, gegen sie zu gewinnen, sondern sie damit finanziell in den Ruin zu treiben und permanent zu beschäftigen. Doch es gibt ein interessantes „kulturelles Überleben“ mit Humor und Literatur, dass eigentlich lange erprobt ist im jüdischen Widerstand. Es hilft auch heute gegen die Konservativen und deren schwere Angreifbarkeit, weil sie sich vor allen Institutionen, wie der Justiz zum Beispiel, schützen.

Nationalismus, so Sławeks Fazit, hat nicht nur ökonomische Ursachen. Er ist komplex. Die Nationengründung in Polen war spät, ähnliches findet man beim ukrainischen Nationalismus, und hier wird von westlichen Linken oft grob vereinfacht, ohne dabei zu sehen, dass der Nationalismus beispielsweise in Frankreich viel größer ist.

Warum nun war der Krieg für Orbán hilfreich?

Unsere letzte Referentin, Noemi Lehoczki, Journalistin bei Mérce, sprach über die Lage in Ungarn. Und sie stieg ein mit einer These, dass das ganze Drama 2018 bereits bei einer kleinen Bürgermeisterwahl begann, nicht erst jetzt mit Orbáns Wiederwahl. Der gesamte Opposition-Diskurs zielte auf das Anprangern von Korruption, obwohl Orbán einen Deep State aufbaut, was weitaus schlimmer ist. Für die Ungarinnen und Ungarn war hinsichtlich der Wahl der Unterschied minimal.

Der Krieg jetzt ist nicht nur ein Schock. Er hat Orbán auch noch im Wahlkampf geholfen, der den Bau von Atomkraftwerken mit russischer Unterstützung plant.

Warum nun war der Krieg für Orbán hilfreich?

Der Sender Partisan fragte Vertreter der Opposition mitten im Wahlkampf: „Würdet ihr Kämpfer in die Ukraine senden?“ Da kam als Antwort: „Nur, wenn die NATO das entscheiden würde.“ Dies interpretierten Wähler*innen (und die regierungsgesteuerten Medien) kurzerhand: „Wenn die (Herausforderer Orbáns) gewinnen, dann werden wir in die Ukraine geschickt.“ Und so wählten sie Orbán. Die linke Opposition ist absolut marginal in Ungarn. Es gibt eine kleine linke Opposition, bei der Noemi als Co-Vorsitzende aktiv ist, namens Szikra (Funke), doch insgesamt, so die Journalistin, ist wenig handfeste linke Politik in Sicht: „Wir haben einige Bewegungs-News-Web-Sites ohne Bewegung.“ Mit der Wiederwahl Orbáns sind viele Träume an Universitäten, in Gewerkschaften, in Organisationen und NGOs geplatzt.

Wie weiter?

Stadtrundgang in Prag, EuPoS, Mai 2022 | Foto: Jörg Bochmann

So schmerzhaft die letzte Debatte der Klausur war, so viel haben wir insgesamt gelernt, ausgetauscht und einige Verabredungen für die kommenden Zusammenarbeit getroffen. Ein wunderbarer Stadtrundgang durch Prag mit viel jüdischer Stadtgeschichte hielt die beiden intensiven Tage zusammen und gab auch Impulse und Kraft für die nächsten Aufgaben. Europapolitik – über die Fachpolitiken hinaus – braucht eine kühne, linke, ermutigende Erzählung und wir sollten nicht erst 2023 anfangen, sie praktisch zu schreiben.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.