Netanjahu hat Zenit seiner Macht überschritten

Neue Friedensinitiativen und gerechtere Wirtschaftsordnung ist die Hauptaufgabe jeder neuen Regierung in Israel. 

„Das Wahlergebnis zeigt deutlich: Benjamin Netanjahu hat den Zenit seiner Macht überschritten, seine rechtspopulistische Ära könnte endlich zu Ende sein,“ sagt Martina Michels, Sprecherin von DIE LINKE. im Europaparlament und Mitglied in der Delegation für die Beziehungen des Europaparlaments zu Israel. Allerdings sind noch nicht 100 Prozent der Stimmen ausgezählt, die konkreten Mehrheiten für eine Regierungsbildung sind noch immer unklar.

„Sollte es zu einer Regierung des rechten Lagers kommen, mache ich mir ernste Sorgen um die Demokratie in Israel.“ Michels befürchtet, dass „religiöse und nationalistische Tendenzen in Politik und Gesellschaft“ dann vermutlich noch stärker würden. „Das wären schlechte Vorzeichen für den Frieden.“

Martina Michels weiter: „Eine weltlicher ausgerichtete Regierung könnte der Bevölkerung eine Atempause verschaffen. Der zerstörerische Wettlauf der Rechtsnationalist*innen wäre erst einmal gebremst. Solch eine Regierung würde die Demokratie nicht weiter aushöhlen, religiöse und nationalistische Tendenzen in Politik und Gesellschaft hoffentlich vorerst aufhalten.“ Netanjahu habe nicht erst in diesem Wahlkampf an „den Grundfesten der Demokratie gerüttelt“ so Michels. „Das Nationalstaatsgesetz, Kameras in Wahllokalen und seine Annexionspläne für das Westjordanland schaden Demokratie und Frieden. Mit Hassreden in sozialen Medien und den Kampagnen gegen ‚die Medien‘, den Generalstaatsanwalt, gegen ‚die Eliten‘ und Linke, und seine rassistischen Ausfälle gegen Israels arabische Bevölkerung hat er sein wahres Gesicht gezeigt. Trumps Bruder im Geiste!“

Michels ergänzt: „Ich freue mich besonders über den Wahlerfolg der Gemeinsamen Liste*, die als drittstärkste Kraft ins Parlament einzieht. Ihre fortschrittliche Vision für Israel insgesamt – ein Ende der Besatzung, eine Demokratie, die mehr ist als die Willensbekundung der Mehrheit, und mehr soziale Gerechtigkeit – ist die notwendige Stimme im Parlament gegen den herrschenden rechtsnationalistischen und neoliberalen Diskurs. Gleichzeitig muss auch die außerparlamentarische Öffentlichkeit lauter werden, um den Druck auf die rechten Parteien zu erhöhen.“

„Ich hoffe sehr, dass die Annexionspolitik und interne Radikalisierung der bisherigen Regierung endlich gebremst werden. Weitere Kolonisierung und stärkere Ausgrenzung würden eine friedliche Lösung auch für die nächsten Generationen verbauen. Noch hat die Mehrheit der Wählenden für Parteien gestimmt, die ausdrücklich oder mindestens indirekt dagegen sind, einen lebensfähigen Palästinenserstaat zu gründen,“ bewertet Michels den Wahlausgang und seine Auswirkungen auf die Friedenspolitik.

*Die 2015 gegründete Gemeinsame Liste/Joint List galt als große Hoffnung der palästinensischen Staatsbürger*innen Israels, die ihr bei den Wahlen 2015 zu 85 Prozent die Stimme gaben und sie mit 13 Abgeordneten zur drittgrößten Fraktion in der Knesset machten. Im Vorfeld der Wahlen im April 2019 zerbrach sie an persönlichen Querelen in zwei Listen, die zusammen lediglich zehn Mandate erhielten. Zu den Wahlen im September stellte sich die Gemeinsame Liste erneut als Zusammenschluss von vier Parteien auf, die gezielt auch die Interessen der palästinensischen Minderheit in Israel, dabei sehr unterschiedliche politische Positionen vertreten, von sozialistischen über liberale bis zu islamisch-konservativen. Der Vorsitzende der Gemeinsamen Liste, Ayman Odeh, erklärte während des Wahlkampfes eine grundsätzliche Bereitschaft, sich einer Mitte-links-Koalition anzuschließen, wenn Blau-Weiß einigen grundlegenden Forderungen zustimmt, die den Friedensprozess und Israels palästinensische Bürger*innen betreffen, sodass sie keine Bürger*innen zweiter Klasse mehr sind.

Dieser Artikel ist zuerst auf DIE LINKE. im Europaparlament erschienen.